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Vortrag Prof. Dr. Heiner Keupp (DVD)

10. Fortbildungstage 2010

Von der Gesellschaftsvergessenheit der Psychotherapie und der Notwendigkeit von Gesellschaftsdiagnostik

Der Sozialpsychologe Heiner Keupp zeichnete das depressive Erscheinungsbild der Postmoderne in seinem Vortrag "Von der Gesellschaftsvergessenheit der Psychotherapie und der Notwendigkeit von Gesellschaftsdiagnostik". Er skizzierte die krankmachenden und die Würde des Menschen verletzenden gesellschaftlichen Bedingungen und die Arbeitswelt mit ihrem Leistungsdruck und den Folgen der Arbeitslosigkeit. Der weltweite Kapitalismus - der ja heute wieder kritisiert werden dürfe, ohne gleich "verdächtig" zu sein - der sich die Menschen schaffe, die er brauche: Menschen ohne feste Bindungen, ohne feste Charaktereigenschaften. Benötigt werde ein fragmentiertes, "nachgiebiges Ich". Die Folgen seien unübersehbar: Werteverlust, Verlust haltgebender Strukturen, zunehmende Depressionserkrankungen, Burnout. 

"Wie gehen wir damit um?" fragte Heiner Keupp. Seiner Analyse zu folge mit zunehmender Medikalisierung. "Depression steigt überproportional – das gleiche gilt für Antidepressiva". Er machte diese Erscheinungen an aktuellen Beispielen aus dem Leistungsport Fussball deutlich, wo kurzzeitig über die depressionsverursachenden Strukturen laut diskutiert werde, aber keine tiefgreifenden Veränderungen stattfänden. 

Zurück zu den Ursachen stellte Heiner Keupp fest: Zunehmend sei die Erosion traditioneller Lebenskonzepte erkennbar, nirgendwo gebe es stabile Bezugspunkte. Er sprach von der "flüchtigen Moderne". Diese sei gekennzeichnet durch "die endlose Suche nach dem richtigen Lebensformen", durch die zunehmenden Bereiche, für die der Einzelne die Verantwortung trage (Urlaub selber buchen, Altersvorsorge organisieren...). Auf individueller Ebene erfahre der Einzelne "das erschöpfte Selbst" als individuelles Versagen.

Der Einzelne dürfe aber für persönliches Scheitern nicht verantwortlich gemacht werden; das Scheitern sei Folge der dargestellten gesellschaftlichen Situation. "Das müsste ein gesellschaftliches, ein politisches Thema werden". Aber: "Heute fehlen wirkliche Utopien, es gibt keinen Spirit, keine übergreifenden Ideen. Wir haben eine tiefe Gesellschaftskrise, eine erschöpfte Gesellschaft." Was empfiehlt der Wissenschaftler? Zum Beispiel Achtsamkeit – ein wesentlicher Aspekt des Personzentrierten Ansatzes.



Über Prof. Dr. Heiner Keupp:

Heiner Keupp, geb. 1943 in Kulmbach (Oberfranken), aufgewachsen in Thierstein bei Selb. Er hat Psychologie und Soziologie studiert und sich zwischen den beiden Disziplinen als Sozialpsychologe angesiedelt. In seinem fachlichen Selbstverständnis ist er einerseits von seinen Frankfurter Lehrern Adorno, Horkheimer und Mitscherlich und andererseits von der Studentenbewegung geprägt. Seit 1978 ist er Hochschullehrer für Sozial- und Gemeindepsychologie an der Universität München. Daneben hat er sich aktiv an der Arbeit reformorientierter Verbände beteiligt: An der Gesundheitspolitik der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (als langjähriger Sprecher des Gesundheitspolitischen Ausschusses) und in der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie seit ihrer Gründung. Bis 1999 war er Mitglied des Gründungsvorstandes der Gesellschaft für gemeindepsychologische Forschung und Praxis.

Seine Arbeitsschwerpunkte waren zunächst die Strukturreform der psychosozialen Versorgung ausgerichtet. Fachlich ging es zunächst um die Formulierung einer alternativen Perspektive psychischen Leids, die psychosoziale Probleme als Verarbeitungsversuche belastender und widersprüchlicher Lebensbedingungen sichtbar macht. Im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie ging es aber auch um die Schaffung institutioneller Alternativen zu den psychiatrischen Großkrankenhäuser. Beim Aufbau Sozialpsychiatrischer Dienste in München war er im Vorstand eines Trägervereins aktiv beteiligt. In einem Forschungsschwerpunkt ging es parallel dazu darum, die Entwicklung hin zu einer gemeindenahen Versorgung wissenschaftlich zu begleiten. In dieser Zeit war der Ideenaustausch mit KollegInnen von der italienischen Reformpsychiatrie sehr befruchtend. Heiner Keupps Bilanz der Psychiatriereform in der BRD fällt eher skeptisch aus. Vor allem die zunehmende Reformunfähigkeit der staatlichen Instanzen hat sein Interesse an Initiativgruppen aus dem Bereich der neuen sozialen Bewegungen wachsen lassen. Er wurde Mitglied des ersten Selbsthilfebeirats der Landeshauptstadt München. Das Vertrautwerden mit selbstorganisierten Projekten hat auch die Aufmerksamkeit zunehmend auf das "Empowerment"-Konzept gerichtet. Dieses Konzept steht auch im Zentrum mehrerer Projekte zur Gesundheitsförderung von Jugendlichen, unter besonderer Berücksichtigung von sozial benachteiligten Jugendlichen und solchen aus Migrationsfamilien, die im Rahmen der Bundesförderung von Public Health-Forschung durchgeführt wurden.

Als Sozialpsychologe mit wachem Interesse an gesellschaftlichen Veränderungen hat er sich mit Fragen wie der subjektiven Verarbeitung atomarer Gefahren ebenso beschäftigt, wie mit der Stigmatisierung von Minderheiten, dem Umgang mit der NS-Vergangenheit und seit dem Ende der DDR mit den psychosozialen Folgen der deutschen Vereinigung, insbesondere den wachsenden Rechtsradikalismus und die zunehmende Gewaltbereitschaft. Im Zentrum seines theoretischen Interesses steht gegenwärtig die Frage, wie sich in den Umbruchsturbulenzen der »Risikogesellschaft« Identitäten ausbilden. Mit seinem Konzept der »Patchwork-Identität« versucht er neue Wege der Konzeptentwicklung zu gehen und im Rahmen eines Sonderforschungsbereiches wurde eine Längsschnittstudie dazu durchgeführt. Zuletzt hat sich Heiner Keupp um eine sozialpsychologische Aneignung des Kommunitarismus bemüht. In einem neuen Sonderforschungsbereich werden dessen Vermutungen empirisch überprüft. Für die Zukunftskommission von Bayern und Sachsen hat er ein Gutachten zum Potential freiwilligen sozialen Engagements erarbeitet. Er beteiligt sich an Initiativen zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements. Von der Stadt München wurde er mit der Moderation eines Fachforums im Rahmen des kommunalen Umsetzungsprozesses der "Agenda 21" beauftragt.

 

Spieldauer: ca. 58 Min.

Köln 2010, GwG-Verlag

Artikel-Nummer:
FOBI-V-HK 2010
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