Wir sind ständig in Beziehung. Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Auch in Beratung, Coaching oder Supervision.
Wir sind ständig "in Beziehung". Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Auch in Beratung, Coaching oder Supervision.
von Christa Kosmala
„Beziehung als Schutzfaktor“ , dass ist vielen aus Therapie und Traumaforschung bekannt. Gerade nun in diesen Zeiten hat das Thema Beziehung um so mehr Bedeutung, weil sich der gewohnte, selbstverständliche Umgang mit anderen Menschen coronabedingt verändert hat. Abstand, Distanz, Kontaktreduzierung sind angesagt. Das Zusammentreffen von Menschen in Räumlichkeiten ist besonderen Bedingungen unterworfen, wenn es überhaupt stattfinden kann.
Dabei brauchen wir die anderen, brauchen einander, brauchen die Beziehungen. Wie und wo das auch immer möglich ist. Weil es uns nährt, schützt, im Leben verankert, der gewohnte Kontakt mit anderen Menschen ist das, was viele von uns gerade am meisten vermissen. Kontakte per Bildschirm, Telefon, Headset, online, digital haben Konjunktur und sind doch kein adäquater Ersatz. Ja, es geht, es funktioniert – und zugleich fehlt ganz viel. Das zeigt sich auch im professionellen Bereich von Beratung, Coaching, Supervision oder auch der Therapie, die coronabedingt und je nach dem auch auf digitale Formate ausweichen – mit ungewohnten Kommunikationserfahrungen. Denn in die Kamera gucken und gleichzeitig den anderen sehen? Geht nicht. Mimik, Gestik, Körpersprache? Nur reduziert, nur ausschnitthaft. Das Gehirn scannt trotzdem in den verfügbaren visuellen Ausschnitten ein Gegenüber ständig danach ab, wie es guckt, wie es agiert, wie es reagiert, wie es klingt (sehen, hören, fühlen). Dabei ist der so wichtige Geruchssinn ganz abgemeldet. Die Anstrengungen der Sinne sind jedoch permanent im Gange und im Ergebnis ist so wenig verfügbar. Nur ein irgendwie unbefriedigender Ausschnitt dessen, was uns sonst vertraut ist. So läuft das Gehirn auf Hochtouren, es wird viel Energie verbraucht, wir werden schnell müde, unaufmerksam, erleben unzureichenden Kontakt. Welche Auswirkungen das auf die Beziehungen hat, ist aktuell Gegenstand viele Untersuchungen.
Deshalb lohnt sich vielleicht grade jetzt wieder ein fokussierter Blick darauf, welchen Stellenwert die (professionelle) Beziehung im Kontext von Beratung, Coaching oder Supervision hat. Denn Beziehung als Wirkfaktor ist hier immer wieder Thema.
„Eine gute Coaching-Beziehung bildet eine allgemeine, kaum verzichtbare Grundlage dafür, im Caoching gute Ergebnisse zu erzielen, daher sollte sowohl in der Praxis, als auch in den Ausbildungen diesem Aspekt mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.“(Mannhardt / De Haan, S. 89)
Personzentriert ausgebildete BeraterInnen, Coaches oder SupervisorInnen nehmen für sich zu Recht in Anspruch, per se in ihrer Arbeit beziehungsorientiert ausgerichtet zu sein, weil genau das fundamentaler Teil der Ausbildung ist. Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: im Personzentrierten Ansatz (PZA) ist die therapeutische oder beraterische Beziehung, seit Carl Rogers Pionierarbeit zur Beziehungsforschung, als der zentraler Wirkfaktor lange geklärt.
Wer zum ersten Mal ein Coaching in Anspruch nimmt und (auch) keine Therapieerfahrungen hat, erlebt vielleicht gerade in diesem Setting seine erste Auseinandersetzung mit sich selbst, mit seinem Selbstbild.
Das Lernfeld Bindung und Beziehung
WIE zwei (oder mehr) Menschen sich im Beratungskontext begegnen, WIE sich die Beziehungsebene gestaltet, ist entscheidend für das (effektive) Ergebnis einer professionellen Beratung, für Coaching, für Supervision. Beides wird hier als Formen der Beratung verstanden.
Im Personzentrierten Ansatz gilt nun, das ein ausreichendes Beziehungsangebot durch Beraterin oder Berater DIE Basis des Zusammentreffens mit KlientIn oder Coachee ist – und damit auch Voraussetzung für effektive oder erfolgreiche Beratung.
Denn Menschen sind soziale Wesen, sind beziehungsangewiesen und beziehungsorientiert geboren. Beziehungen mit und zu anderen Menschen sind das zentrale Feld, wo Menschen lernen, wer sie sind, was sie schützt, wem sie vertrauen, was sie brauchen, was sie (leisten) können, was ihnen schadet, welche Wege sie gehen, welche Entscheidungen sie treffen. Der Prozess des Beziehungslernens ist bio-logisch, durch die Natur vorgegeben. Es beginnt im Bauch der Mutter. Bereits das ungeborene Kind agiert und reagiert dort auf Herzschlag, Stimmungen, Gefühle, Befindlichkeiten der Mutter. Nach der Geburt prägt das biologisch angelegte "Bindungssystem" in ersten frühkindlichen Beziehungen bestimmte Bindungsmuster aus, vor allem "während des ersten Lebensjahres" (Brisch, 2013, S. 13). Erlebt das Kind hier zu wenig für eine gute Entwicklung adäquate Bindungssignale der engsten Bezugspersonen, sind mögliche Störungen damit angelegt. Das Bindungssystem oder Bindungsmuster "wandelt sich im Laufe der Zeit, bleibt aber in seinen Grundstrukturen in den meisten Fällen relativ konstant", schreibt Lotte Köhler in ihrem Vorwort zu Karl Heinz Brischs Fachbuch "Bindungsstörungen" (ebd.). Und auch wenn die Bindungstheorie nur einen Teil der gesamten Persönlichkeit zu erklären vermag, betrifft dies doch jenen Teil, „der für die zwischenmenschlichen Beziehungen von ausschlaggebender Bedeutung ist“ (ebd. S. 16)
"Die Bindungstheorie begreift das Streben nach engen emotionalen Beziehungen als spezifisch menschliches, schon beim Neugeborenen angelegtes, bis ins hohe Alter vorhandenes Grundelement. [...] Trotz der großen Bedeutung des Nahrungs- und Sexualtriebes ist die Bindung, ihrer lebenswichtigen Schutzfunktion wegen, als solche eigenständig" (Bowlby, zitiert in Brisch, 2013, S.6 ).
Hinzu kommt dann im Verlauf der Sozialisation, in der sozialen Umgebung, in der privaten oder beruflichen Umwelt auch jener private oder berufliche "Druck" hinzu, der Anpassungserwartungen signalisiert. Ob das nun ein erwarteter Druck ist, ein gedachter, ein selbst konstruierter Druck oder ein von außen signalisierter, gar verlangter Anpassungsdruck. Er wirkt sich so oder so auf uns als Personen und auf unsere Beziehungen aus. Und auch vor dem Hintergrund, wie unser Bindungserleben im Säuglings - und Kleinkindalter verlaufen ist, reagieren wir darauf.
Bindungserfahrungen haben dabei für die Therapie, so heißt es, eine größere Bedeutung als für Coaching (vgl. Mannhardt / De haan, S. 88) oder Supervision – sind jedoch als ein Grundelement der Menschwerdung Teil der jeweiligen Person und mit dem Streben nach Beziehungen engstens verknüpft (vgl. Brisch, S.6). Was in Beziehungen erlernt wird, zeigt sich auch in Beziehungen, wirkt sich in ihnen aus. Es kann auch (oft) nur in Beziehungen wieder verlernt oder korrigiert werden (vgl. Straumann, S.117). Menschen verändern sich in Beziehungen.
Ob Beratung oder Coaching oder Supervision, es gelingt um so besser, je besser die Beziehungsebene gestaltet werden kann
Entscheidend sei, so zeigten es die meisten Studien, dass „insbesondere Wertschätzung und emotionale Unterstützung […], Förderung der Selbstreflexion [...], Ressourcenaktivierung [...] und Zielkärung [...] die bedeutsamsten Verhaltensweisen des Coachs im Hinblick auf Coaching-Erfolge sind.“ (ebd, S. 88).
Wann lässt sich nun ein Coachee auf emotionale Unterstützung ein? Wie sehr kann sie oder er in die Selbstreflexion gehen, wodurch lassen sich jeweilige Ressourcen aktivieren? WIE gelingt es, dass die zu coachende Person ein Ziel für sich sieht oder klären kann, für sich annimmt, es verfolgen will, aktiv daran arbeiten möchte. Und WIE gelingt es, dass diese Person die oder den Coach*enden hierzu als Hilfe, Unterstützung, als PartnerIn annehmen kann?
Es setzt voraus, dass eine gute, konstruktive, vertrauensschaffende Beziehung durch die oder den Coachende*n gelingt. Eine Beziehung, die die Basis des Geschehens ist, so dass das Gegenüber es für "ungefährlich hält, offen und ehrlich zu sein" (Rogers, 2006, S 64f). Es konzentriert sich in der Frage "Kann ich irgendwie so sein, dass der andere mich wirklich als vertrauenswürdig, verlässlich und beständig wahrnimmt?" (Rogers, ebd.). Anders formuliert, um eine solche vertrauensvolle, authentische, achtsame und durchschaubare Beziehungsebene als Beratungsebene herzustellen oder anbieten zu können, braucht es das entsprechende Rüstzeug. Eine freundliche Fassade wäre bei Beraterin oder Berater fehl am Platz und Augenhöhe darf keine Floskel sein. Augenhöhe bedeutet Partnerschaftlichkeit, Anerkennung, Wertschätzung und Echtheit sind beraterische Grundhaltung. So, wie es die personzentrierte Grundhaltung nach Carl R. Rogers definiert und mit sich bringt. Daraus erwächst Vertrauen. Im Coaching ist ein „sich aktiv einbringender Coach vonöten“ (vgl. Mannhardt/De Haan S. 89). Das heißt, ihr oder sein ein aktives Tun und ein möglichst kongruentes sich Einbringen als Person zählt. DAS führt zu Beratungserfolg oder bringt den Beratungserfolg voran.
„Das Beziehungsangebot in der personzentrierten Beratung und damit auch in Supervision und Coaching ist gekennzeichnet von Tranzsparenz und Offenheit, Kongruenz und Authentizität im Verhalten der Beraterin und des Beraters, durch Wertschätzung, vorurteilslose Wahrnehmung und Akzeptanz des Gegenübers und durch empathisches, einfühlendes Verstehen“ (Straumann /Zimmermann-Lotz, S.31).
„Offen und ehrlich“ sein auf der Beziehungsebene – auch als Empfehlung fürs Coaching von Führungskräften?
Ja, sagen zum Beispiel Schein und Schein ausdrücklich.
Das aktuelle Werk von Schein und Schein ist mir dazu aufgefallen mit seinem Schwerpunktthema Vertrauen im Bereich Management und Führung, einem zentralen Bereich des Coaching. Die Organisationsexperten Prof. Edgar H. Schein und sein Sohn Peter A. Schein sprechen in Ihrem Buch "Humble Leadership" (2019) davon, dass es sich bei "Führung" (Leadership) immer um Beziehung handelt.
Offenheit, Vertrauen und die zugrundeliegende entsprechende Beziehung sehen sie als das A und O erfolgreicher Führung: "Die traditionelle Managementkultur des 20. Jahrhunderts kann als eine transaktionale Ansammlung von Beziehungen zwischen festgelegten Rollen beschrieben werden“, dies sei die Ebene 1 (Schein/Schein, S.11). Hinzu kommen müsse als Ebene 2 eine Beziehungskultur, die „persönlich, vertrauensvoll und offen“ ist (ebd.).
Das klingt nach Rogers und Rogers steckt auch drin. Ed Schein war einst „Schüler“ von Carl Rogers (Bühler, Schmid, Fatzer). So beschreiben Schein und Schein analog zu Rogers für beziehungsbasierte Führung als wesentliche Parameter (vgl., ebd., S.138 f) :
- eigene Urteile oder Vorurteile verbannen - eigene Unwissenheit zulassen (d.h. offen zu bleiben)
- Neugier für das Gegenüber haben
- nicht diagnostizieren
- nicht durchschauen wollen
- nicht urteilen, sondern den anderen verstehen wollen
- Empathie zulassen, aktivieren, entwickeln.
Eine schöne Liste, meinte eine Kollegin, die man sich neben den Beratungsstuhl hängen sollte. Vielleicht am besten neben dieses Rogers-Zitat, das übertragbar ist auf Coaching wie Supervison:
„Wir können mit einer gewissen Sicherheit sagen, daß eine Beziehung, in der der Therapeut einen hohen Grad an Kongruenz oder Authentizität, eine sensitive und gründliche Empathie, einen hohen Grad an Beachtung, Respekt, Zuneigung für den Klienten, und in dieser Hinsicht Bedingungslosigkeit zeigt, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine effektive therapeutische Beziehung ist. Diese Qualitäten sind offensichtlich die primär veränderungsverursachenden Einflüsse auf Persönlichkeit und Verhalten.“ (Rogers, 2006, S. 261)
Zusammengefasst
Mein Anliegen ist die Verbindungslinie zwischen dem Wirkfaktor Beziehung in Beratung, Coaching, Supervision und die Bedeutung des PZA für diese Felder hervorzuheben. Denn wie kann mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz für einen Ansatz entstehen, den so viele nutzen und der nach voldemortscher Art gerade in der freien Wirtschaft bloß nicht beim Namen genannt werden darf? Obwohl er, in Teilen oder ganz, unter jeweils anderem Namen, vereinnahmt oder als Methode missverstanden doch auffällig gegenwärtig ist. Am deutlichsten zeigt sich das eben beim Thema „Wirkfaktor Beziehung“. Im jüngsten „Handbuch Schlüsselkonzepte im Coaching“ (Springer, 2018) ist Rogers in vielen Artikeln immer wieder namentlich erwähnt. Doch ist das in den Coachings in und für Unternehmen der freien Wirtschaft (Profit-Bereich) angekommen? Spielt das beim Thema Supervision auf dem „Markt“ von Angebot und Nachfrage eine Rolle? Deshalb gilt, immer wieder drüber schreiben, drüber reden, posten, chatten, werben, veröffentlichen, networken oder was auch immer geht. Um den Ansatz auch zukünftig bedeutsamer werden zu lassen.
Überträgt man das im nächsten Absatz Zitierte auf den Bereich Coaching und Supervision, wird noch einmal deutlicher, wohin die Reise gehen kann.
„In der Nachfolge von Rogers hat sich eine kreative Vielfalt von Suborientierungen entwickelt, die nicht ohne Einfluss auf das Verständnis der therapeutischen Beziehung geblieben sind und in der Regel ein stärker intervenierendes Eingreifen befürworten. So kann beispielsweise die Auseinandersetzung des Klienten mit seinem Erleben prozessintensivierend angeleitet, erweitert oder vertieft werden, anknüpfend an das Erleben des Klienten im Hier und Jetzt, lebensgeschichtlich frühere Beziehungserfahrungen einbezogen.“ (Stauss/Isele, 2017, S.420)
So könnten Arbeitswelt oder die freie Wirtschaft durch personzentriertes Coaching oder Supervision auch dem „subjektiven Nadelöhr“ (vgl. Kriz/Simon), der Psyche des Menschen, in der Unternehmenskommunikation einen angemessenen Platz einräumen. Weil sich die Beziehungsrelevanz als so bedeutsam erwiesen hat und eben mit dem subjektiven Handeln und Sein untrennbar verbunden ist.
Zum Abschluss meiner Ausführungen folgt eine Grafik, die als Beispiel für die Personzentrierte Supervision die Komplexität und Bandbreite das PZA in einer Zusammenschau dazustellen versucht (Kosmala, S.24). Als ein Beitrag zu einem möglichen Diskurs, der zum Ziel haben könnte, ein publizierbares Werk vieler PZAlerInnen hervorzubringen mit dem möglichen Titel:
Beziehungszentriert Plus ist gleich Personzentrierter Ansatz ist gleich wirkungsorientiert. Ein wegweisendes Handbuch für Beratung, Coaching und Supervision“.
2023! Endlich ist es da.
Literatur
- Straumann, Ursula (1992): Beratung und Krisenintervention. Köln: GwG-Verlag.
- Rogers, Carl R. (1961/2006): Die Entwicklung der Persönlichkeit. 16. Auflg. . Stuttgart: Klett- Cotta.
- Straumann, Ursula / Zimmermann-Lotz, Christiane (2006): Personzentriertes Coaching und Supervision – ein interdisziplinärer Balanceakt.
- Brisch, Karl-Heinz (1999/2009): Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta.
- Stauss , Hans / Isele, Gabriele (2017): Beziehung und Prozess. Publiziert im Themenheft „Über die therapeutische Beziehung“. 38. Jhrg., S. 420, in der Fachzeitschrift „Verhaltenstherapie & Verhaltensmedizin“, Lengerich: Pabst.
- Mannhardt, Sonja M. / De Haan, Erik (2018): Coaching-Beziehung. IN: Greif/Möller/Scholl (Hrsg): Handbuch Schlüsselkonzepte im Coaching. Berlin: Springer.
- Schein, Edgar, / Schein Peter (2019): Humble Leadership. Erfolgreich führen mit Beziehung, Offenheit, Vertrauen. Gevelsberg: EHP – Andreas Kohlhage.
- Kriz, Jürgen / Simon , Fritz B. (2019): Der Streit ums Nadelöhr. Körper, Psyche, Soziales, Kultur. Wohin schauen systemische Berater? Heidelberg: Auer-Verlag.
- Kosmala, Christa (2020): Personzentrierte Supervision. Abschlussarbeit im Rahmen der Ausbildung zum Coach und Supervisor nach DGSv / GwG-Richtlinien. Köln.
Internet
Bühler, Schmid, Fatzer (2017): CEOs sollten dringend demütiger werden. Leadership und Management. HR Today Nr. 5/2017 im Gespräch, 10.05.2017, im Netz unter: hrtoday.ch/de/article/ceos-sollten-dringend-demuetiger-werden.
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