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Was ist Unmenschlichkeit?

„Was für eine komplett entmenschlichte Welt ist denn das, bitte schön, geworden, in der wir hier leben?!“

Neulich schrieb mir ein Bekannter voll Empörung über die Anordnung eines Behördenmitarbeiters gegenüber einem psychiatrischen Patienten: „Was für eine komplett entmenschlichte Welt ist denn das, bitte schön, geworden, in der wir hier leben?!“

Das hat mich – wieder einmal – dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie schnell wir damit bei der Hand sind, etwas als „entmenschlicht“ oder „unmenschlich“ zu bezeichnen. Und ist es das? Oder ist es nicht oftmals etwas höchst Menschliches, allzu Menschliches? Und gehen wir nicht implizit von einem normativen Verständnis des Begriffs aus? Also von der Vorstellung, wie ein Mensch sein sollte oder, wie es die humanistische Psychotherapie tut, von der „wahren Natur“ des Menschen. Diesen normativen Aspekt finden wir schon in der Antike bei Cicero. In „Von den Pflichten“ bezeichnet er es als unmenschlich, wenn Fähigkeiten, die zum Heil und zur Erhaltung der Menschen naturgegeben seien, sich auf den Verderb gutgesinnter Menschen richteten. Er war davon überzeugt, dass Menschen die Pflicht haben, ihre naturgegebene Ausstattung durch Bildung zu kultivieren.

Auch die Philosophie des 18. Jahrhunderts beschäftigte sich mit einer Vorstellung von Menschlichkeit, die sowohl eine humane Gesinnung (Mitgefühl, Barmherzigkeit, Güte, Menschenliebe) wie auch eine entsprechende Bildung umfasst. Johann Gottfried Herder betonte die Notwendigkeit einer umfassenden Bildung, denn Menschen seien zwar vernunftbegabt, wiesen aber andererseits zahlreiche Schwächen auf. Die Begriffe Humanität, Menschheit, Menschlichkeit und Menschenwürdegehen im Wesentlichen auf Herder zurück. Humanität ist die Grundlage der Menschenrechte, des humanitären Völkerrechts und des Völkerstrafrechts („Verbrechen gegen die Menschlichkeit“). Nach den Vorstellungen der Antike und der Philosophie des 18. Jahrhunderts hat der Mensch zwar angeborene Fähigkeiten, die ihn zu Menschlichkeit im Sinne der Humanität befähigen, diese müssen aber durch Bildung gefördert werden, um Grausamkeit und Destruktivität entgegenzuwirken.

Das Konzept der Humanistischen Psychotherapie wurde Ende der 1950er Jahre entwickelt und vor allem von Abraham Maslow und Carl Rogers geprägt. Es legt den Schwerpunkt darauf, dass Menschen ein angeborenes Streben danach haben, ihr je einzigartiges inneres Potenzial zu realisieren. Dieses Streben ist grundsätzlich konstruktiv und bewegt Menschen zu Weiterentwicklung und Entfaltung und damit auch zu einem sozialen Miteinander – vorausgesetzt, dass die Umgebungsbedingungen günstig sind. Psychische Störungen, feindseliges und zerstörerisches Verhalten treten lediglich als Folge ungünstiger Umgebungsbedingungen und Beziehungserfahrungen auf. Das Sollen ist also das eigentliche oder „wahre“ Sein, nicht etwas, was es speziell zu fördern oder kultivieren gilt und wozu jemand sich entscheiden muss.

Nun kann man ganz grundsätzlich fragen, ob die Selbstauffassung des Menschen und damit die Idee, was und wie der Mensch sein soll, nicht historisch unter kulturell kontingenten Annahmen entstanden ist. Und ob wir es uns nicht zu leicht machen, wenn wir bei der Unterscheidung zwischen menschlich und unmenschlich die humanistische Idee voraussetzen.

Durch die Geschichte hindurch belegen zahllose Beispiele, dass „Unmenschlichkeit“ – d. h. Gewalt, Grausamkeit, Brutalität, aber auch Eigennutz, Gedankenlosigkeit, religiöser und politischer Fanatismus – das menschliche Verhalten und Zusammenleben prägen. Zerstörerische Grausamkeit ist eine menschliche Möglichkeit – von den Kriegen und Gewaltexzessen in der Antike bis zum Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und den Bombenangriffen auf Gaza. „Das ist so“, schreibt Jan Philipp Reemtsma, „Menschen (…) können das und tun es immer wieder“. Und durchaus menschlichen Urspungs sind auch die Versuche, natürliche Impulse von Helfen-Wollen und Mitgefühl zu unterdrücken, zum Beispiel durch Entmenschlichung der potenziellen Opfer: Sklaven wurden als Sache betrachtet, Juden durch Kennzeichnung mit einem Stern ausgegrenzt, Folteropfern wird durch einen Sack über dem Kopf ihr Antlitz genommen … Gewalt kann aus niederen Beweggründen ebenso resultieren wie aus hehren Motiven. So beschreibt David Hume, dass für schottische Calvinisten die Einhaltung der Sonntagsruhe, die als gottgefällig galt, es sogar verbot, einem Schiffbrüchigen zu helfen. Fundamentale moralische Intuitionen können durch religiöse Regeln, durch ideologische Glaubenssätze außer Kraft gesetzt werden – hier schließlich passt das Wort unmenschlich.

Es gilt, sich dieser menschlichen Möglichkeiten bewusst zu sein und sie nicht als unmenschlich aus dem Blickfeld zu rücken. Und ihnen dann die humanistische Orientierung entgegenzuhalten: die Fähigkeit zur Anteilnahme und zum Perspektivenwechsel, zu Fürsorglichkeit, Erbarmen und der Bereitschaft zur Versöhnung.

 

(1)Jan Philipp Reemtsma (2016). Gewalt als Lebensform. Stuttgart: Reclam. S. 30