Von Utopie bis Realität: Personzentrierte Friedensgespräche
Bisher saß ich jeden Abend vor den Nachrichten und war so fassungslos wie entsetzt darüber, dass es einer terroristischen Bewegung wie dem „IS“ gelingen kann, so schreckliches Unheil über so viele unschuldige Menschen zu bringen, ohne gestoppt zu werden. Ich dachte, über so ein Thema kann ich kein Wort für einen Blog schreiben. Viel zu groß, zu umfassend, zu kompliziert, zu unbegreiflich. Und wie einen Transfer herstellen zum Personzentrierten Ansatz (PZA)? Denn darum geht es ja immer in den Blogs für diese Website. Aber es hat mich nicht losgelassen, etwas schreiben zu wollen – erst recht nicht, nachdem ich folgendes Zitat von Rogers gefunden habe:
„An der Spitze der Weltprobleme, die darüber entscheiden werden, ob uns eine Zukunft beschert sein wird, rangieren die alten und neuen Konflikte, welche die Kulturen, Ideologien, Religionen und Nationen entzweien. […] Kann der personenbezogene Ansatz [PZA]einen nützlichen Beitrag zur Lösung dieser ungeheuren und gefährlichen globalen Probleme leisten?“ [i] (Rogers 1977/1985, 133)
Auch auf die Gefahr hin, dass der folgende Beitrag eine Aneinanderreihung von Zitaten werden könnte, möchte ich ihn als eine mögliche Diskussionsgrundlage vorstellen – ohne jeden Anspruch, dem Thema „Terror“ auch nur annähernd gerecht werden zu können. Darum soll es hier auch nicht gehen. Denn zwischen dem, was „Allahs gottlose Armee“ [ii] an systematischen Grausamkeiten verübt und dem, worum es in Rogers Friedensarbeit geht, lässt sich für mich keine Verbindung herstellen. Die Terrorbewegung ist nicht einmal gestoppt. Und das, was nach irgendeinem „Ende“ von „IS“ geschehen wird, beginnt vermutlich mit der Suche nach Bewältigungsmöglichkeiten für das unsägliche Leid, das die Terrormiliz über die Menschen gebracht hat, was Jahre oder Jahrzehnte dauern kann.
Um was soll es hier also gehen? Es geht um das „davor“. Darum, was es bedeuten kann, „Gespräche“ zwischen verfeindeten Parteien oder Gruppen zu ermöglichen und zu begleiten und zwar bevor ein Konflikt ausbricht oder eskaliert. Bevor es zum Krieg kommt oder bevor sich Terrorgruppen bilden und für jahrelanges Leid und Entsetzen sorgen.
„Blicken wir über unsere Grenzen hinaus, so begegnen wir Terroristengruppen, die die Welt durchschweifen und Gewalttaten gegen völlig Unschuldige begehen. Die Liste unausrottbarer Fehden zwischen den Rassen, Kulturen und Nationen scheint kein Ende zu nehmen.“ (ebd., 134)
In der deutschsprachigen Wikipedia ist zu lesen, Terror sei die systematische und oftmals willkürlich erscheinende Verbreitung von Angst und Schrecken durch ausgeübte oder angedrohte Gewalt, um Menschen gefügig zu machen – und um damit politische, wirtschaftliche oder religiöse Ziele zu erreichen. Neben die Nüchternheit dieses Satzes möchte ich zwei Zitate aus exemplarischen Werken stellen, eines zum Begriff „Terror“ von Hannah Arendt, das andere zum Begriff „Angst“ von Heinz W. Krohne. Sie bringen beispielhaft zum Ausdruck, wie umfassend das Themenfeld Terror ist:
„Terror macht die Menschen unbeweglich, als stünden sie und ihre spontanen Bewegungen nur den Prozess von Natur oder Geschichte im Wege, denen die Bahn freigemacht werden soll. Terror scheidet die Individuen aus um der Gattung willen, opfert Menschen um der Menschheit willen, und zwar nicht nur jene, die schließlich wirklich Opfer werden, sondern grundsätzlich alle […].“ [iii] (Ahrendt 1951/2014, 955 f).
„Angst […] greift tief in unser Leben ein, aktiviert den Einzelnen entweder und spornt ihn zu besonderen Leistungen an oder hemmt, lähmt, ja zerstört ihn.“ [iv] (Krohne 2010, 13)
Der Terror des IS-Gruppe, den wir aktuell über die Medien verfolgen können, gehört zu den erschütterndsten Gewalttaten dieser Art: „Die Terroristengruppe 'Islamischer Staat' überrennt große Teile des Landes, mordet, plündert und treibt Hunderttausende in die Flucht.“ [v] Die Angst und Not der Menschen in Syrien und Irak, die diesen Terror erleben, ist kaum vorstellbar.
Einerseits gilt das Entstehen dieser Terrorgruppierung und ihr rasches Anwachsen als „Folgen“ eines uralten religiösen Konfliktes zwischen Sunniten und Schiiten. So ließt es sich in verschiedenen Medien (vgl. [vi], [vii]). Andererseits, kommentiert die Journalistin Sonja Zekri auf Süddeutschen.de, gibt es weitere Gründe für diese Entwicklung.
„Richtig daran ist, dass ein theologisches Schisma dem Konflikt zugrunde liegt, aber auch Machtfragen verhandelt wurden, soziale Aufstiegschancen, kulturelle Gewohnheiten, kurz: Rivalitäten zwischen Gemeinschaften, deren Identität durch Religion geprägt ist. Es gibt Millionen Beispiele der Toleranz und Koexistenz. Aber so, wie bestimmte Umstände die Kluft mildern können, lassen andere den Konflikt ausbrechen“. [viii] (Zekri 2014)
Zekri vergleicht diesen Konflikt, den sie als „Nahöstlichen Weltkrieg“ bezeichnet, mit jenem Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten, der „vom Dreißigjährigen Krieg bis Nordirland auch immer wieder mit Gewalt ausgetragen wurde“. Dieser Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken habe gedauert, „bis die Europäer andere Methoden für erfolgreicher hielten“. Was genau diese „anderen Methoden“ gewesen sind, darauf geht sie nicht weiter ein.
Carl Rogers, Begründer des PZA, war selbst aktiv an der Konfliktklärung zwischen Gruppen nordirischer Protestanten und Katholiken beteiligt und berichtet folgendes
„Bei unseren Zusammenkünften war der Haß, der Argwohn und das Mißtrauen der zwei verfeindeten Gruppen stark spürbar, manchmal in verdeckter Form, aber allmählich wurde das alles viel offener geäußert. […] Während dieser Sitzungen wurde der jahrhundertealte Haß nicht nur gemildert, sondern in einigen Fällen von Grund auf verwandelt. […] Durch die Fortschritte, die eine Gruppe in Richtung der Versöhnung macht, hat das Töten in Belfast natürlich noch nicht aufgehört. Aber nehmen wir einmal an, dass es tausend oder zweitausend Gruppen gegeben hätte. Die Kosten hätten einen Bruchteil dessen betragen, was katholische und protestantische Privatarmeen und die britischen Okkupationsgruppen verschlingen.“ [ix] (Rogers 1977/1985, 151)
Auseinandersetzungen, so Rogers, verlaufen nach einem einfachen Schema, „Ich habe recht und du hast unrecht“ oder „Ich bin gut und du bist schlecht“. Das gelte für Spannungen zwischen Individuen wie zwischen Gruppen – bei denen das „ich“ durch ein „wir“ ersetzt ist. Seine Erfahrungen bezüglich der Lösung von Konflikten hat er vielfach dargelegt. Es geht bei einem (personzentriert begleiteten) Aufeinandertreffen von Konfliktparteien darum, dass alle Einstellungen und Gefühle ihren Platz haben dürfen, die jeweils andere Partei respektvoll angehört wird, Probleme akzeptiert und klar definiert werden und die nächsten Schritte von den Gruppenmitgliedern selbst gefunden werden können(vgl. S. 131). Es ist ein Prozess, der ein Schritt nach dem anderen erfordert und der nicht von selbst in Gang kommt. Es braucht Menschen mit personzentrierten Einstellungen, die ihn initiieren, die ihn begleiten und die sich zugleich auskennen damit, welche emotionalen Schichten zum Vorschein kommen werden. Sie müssen sich von dem Wunsch freihalten können, das Ergebnis zu beeinflussen, der Gruppe zutrauen, mit ihren eigenen Problemen selbst fertig zu werden und Hilfe zur Selbsthilfe verwirklichen wollen (vgl. ebd.). Rogers hat viele Prozesse dieser Art begleitet. Wohin sich seine Konfliktlösungs- und Friedensaktivitäten zuletzt entwickelten, ließt sich in einem „Vorwort“ von Reinhard Tausch aus 2002 so:
„Carl Rogers hatte auch in seiner letzten Zeit Kontakte zu Präsident Jimmy Carter über ihr beider Vorhaben, wie durch förderliche Begegnung von verfeindeten Politikern Friede herbeigeführt werden kann, wie z.b. durch die Begegnung von Israels Premierminister Rabin mit dem ägyptischen Präsidenten. Der Senator John Vasconcellos in Kalifornien förderte die Bestrebungen von Carl Rogers in der Politik. Kurz vor seinem Tode schlug der Senat von Kalifornien Carl Rogers für den Friedensnobelpreis vor.“ [x](Tausch 2002, 11)
Rogers starb 1987. Sechs Jahre später, im September 1993 unterzeichneten Jitzchak Rabin und Yassir Arafat ein Grundsatzabkommen in Washington, die Oslo-Verträge. Beide Seiten erklärten sich zu Zugeständnissen bereit unter dem Motto "Land für Frieden". Der Händedruck des israelischen Ministerpräsidenten Rabin mit dem PLO-Chef Arafat ging als Bild um die Welt. 1994 erhielten Arafat und Rabin zusammen mit Schimon Peres den Friedensnobelpreis.[xi] Nein, damit war diese Krise längst nicht aus der Welt. Aber es hatten (viele) Gespräche stattgefunden – die die Zugeständnisse ermöglicht haben und die zuvor niemand für möglich gehalten hätte.
Mit dieser Entwicklung war für einen zeitgeschichtlichen Moment gelungen, was Rogers als eine „globale Strategie“ bezeichnete, die das „scheinbar Unmögliche“ versuchen muss, nämlich „die grundverschiedenen und miteinander konkurrierenden Nationen der Welt mit dem Bewußtsein zu erfüllen, für eine gemeinsame Sache zu kämpfen.“ [xii] (Rogers 1977/1985, 134)
„Wenn es fast zu spät erscheint, erfaßt das große kollektive Bewußtsein den Ernst eines Problems und beginnt, dramatisch voranzudrängen. […] Diese Wissen um die Vergangenheit ist es, was mir den Mut gibt, Methoden zur Lösung […] vorzuschlagen. […] Der personzentrierte Ansatz bietet eine Alternative“. [xiii] (Rogers 1977/1985, 136)
Es ist dasselbe Muster, dass Konflikte ausmacht, eine scheinbar unüberbrückbare Distanz, völlig entgegengesetzte Gefühle, die Unvereinbarkeit verschiedener Seiten. Den Ausgangspunkt, die Urform „aller Zerwürfnisse und Spannungen“ sieht Rogers im „Konflikt innerhalb des Individuums“. Bei der Darstellung der „Alternative“ beginnt er demzufolge „mit den kleinsten Beispielen der Konfliktlösung, zuerst im Individuum, dann zwischen einzelnen, dann zwischen kleinen Gruppen“, um sich schließlich „den bitteren Auseinandersetzungen und Spannungen zwischen den großen Gruppen zuzuwenden“ (vgl., ebd.).
„ [...] wenn alle Einstellungen und Gefühle, so 'extrem' oder 'unrealistisch' sie auch sein mögen, respektvoll angehört werden, wenn die von der Gruppe erlebten Probleme akzeptiert und klar definiert werden, wenn der Gruppe und ihren Mitgliedern gestattet wird, kollektiv und individuell ihre eigenen nächsten Schritte selbst zu bestimmten, dann kommt ein Prozeß in Gang, der folgende Merkmal aufweist: Aus einigen Gruppenmitgliedern werden lang unterdrückte Gefühle ausbrechen – vorwiegend negative, feindselige, bittere Gefühle. Da sie sehen, daß diese Haltungen akzeptiert und verstanden werden, werden es mehr und mehr Gruppenmitglieder wagen, die ganze Skala ihrer erlebten Gefühle zum Ausdruck zu bringen.“ [xiv] (Rogers 1977/1985, 131)
Rogers war sich völlig im klaren darüber, dass die Frage der Umsetzung seiner Strategien in globale Dimensionen eine „ungeheure Schwierigkeit“ bedeutet, aber es gäbe eine Folgerichtigkeit und eine bewiesene Effektivität der Grundprinzipien. Sie „basieren auf personbezogenen Einstellungen zu den Problemen der Macht, der Herrschaft und der Entscheidungsfindung“ (ebd., 137).
Folgt man dem Konflikt im Individuum als „Urform aller Zerwürfnisse und Spannungen“ und seinen Lösungen, gegensätzliche Gefühle wahrzunehmen und zu akzeptieren, können Konfliktparteien ebenso lernen, ihre gegensätzlichen Ansichten zu artikulieren, zu hören, zu akzeptieren und mit diesen Ansichten zu koexistieren. Das ist zumindest in Zeiten des Friedens, auch eines brüchigen Friedens, noch möglich. Hier besteht noch eine Chance, seine Position darlegen zu können und „Gefühle der Kränkung, des Unverstandenseins und des Mißtrauens“ auszusprechen (vgl. ebd. 137). „Das stoppt die Polarisierungen, bereitet den Boden für Verhandlungen“ (ebd. 143).
Was folgt, sei eine Entschärfung der irrationalen Gefühle sowie Klärung, Bestärkung darin, sich von der Seele reden zu können, was belastet. Es wächst Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein und im weiteren können zunehmend konstruktivere Schritte gefunden werden – um die Situation zu verändern (vgl. ebd. 132).
„Sobald eine Gruppe von Individuen, so antagonistisch oder feindselig ihre Mitglieder auch sein mögen, bereit ist, sich gemeinsam in einem Raum zu versammeln, wissen wir, welche Haltungen und Fertigkeiten geeignet sind, die gegenseitige Achtung und Kommunikationsbereitschaft zu fördern […].“ [xv] (Rogers 1980/1981, 105)
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[i]
Rogers, Carl R. (1977/1985): Die Kraft des Guten. Ein Appell zur Selbstverwirklichung. FaM: Fischer Tb., S.133 f
[ii] SPIEGEL-Titel vom Montag, den 13.10.2014
[iii] Arendt, Hannah (1951/2014): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München, Zürich: Piper. 17. Auflg. Febr. 2014, 955f
[iv] Krohne, Heinz Walter (2010): Psychologie der Angst. Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer. 1. Auflg. 2010, S. 13
[v] Sydow, Christoph: Nuri al-Maliki gegen Haidar al-Abadi. Irak droht Bruderkampf der Schiiten, in: spiegel.de vom 11.08.2014 unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/irak-nuri-al-maliki-und-haidar-al-abadi-streiten-um-regierungsbildung-a-985568.html
[vi] Autorenkürzel rsc, RTR: Glaubenskriege im mittleren Osten: Warum Sunniten und Schiiten sich so hassen. Zu finden unter :http://www.n24.de/n24/Wissen/History/d/4937568/warum-sunniten-und-schiiten-sich-so-hassen.html
[vii] Schulte von Drach, Markus C.: Was Schiiten und Sunniten trennt („Die muslimische Welt kennt verschiedene Glaubensrichtungen. Die größten Gruppen sind Sunniten und Schiiten, die sich immer wieder heftig bekämpfen.“) Süddeutsche.de vom 16.Juni 2014 unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/islam-was-schiiten-und-sunniten-trennt-1.840806
[viii] Zekri, Sonja (2014): Nahöstlicher Weltkrieg. In: Süddeutsche.de vom 01. Juni 2014, download: http://www.sueddeutsche.de/politik/sunniten-gegen-schiiten-nahoestlicher-weltkrieg-1.1685634
[ix] Rogers, Carl R. (1977/1985), Die Kraft des Guten. Ein Appell zur Selbstverwirklichung. F.a.M.: Fischer Tb., S. 151
[x] Tausch, Reinhard (2002) in: Rogers, Carl R. (1961/2006): Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart: Klett-Cotta. 16. Auflg. 2006, S. 11.
[xi] Vgl.: Die erste Intifada und das Friedensabkommen von Oslo. Dossier v. Martin Schäuble u. Noah Flug vom 28.03.2008, online bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu finden unter: http://www.bpb.de/themen/CFBREA,,0,Die_Erste_Intifada_und_das_Friedensabkommen_von_Oslo.html
[xii] Rogers, Carl R. (1977/1985): Die Kraft des Guten. Ein Appell zur Selbstverwirklichung. FaM: Fischer Tb., S.134
[xiii] Ebd. S. 136
[xiv] Ebd. S. 131,
[xv] Rogers, Carl R. (1980/1981): Der neue Mensch. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 105
GwG-Bloggerin Christa Kosmala:
Im Zweifel Rogers
Ich lebe mit meiner Familie in Köln, arbeite als Psychosoziale Beraterin in Einzelarbeit (Erwachsene, Jugendliche, Eltern, Führungskräfte) oder mit Teams (berufliche Teams in Organisationen) oder mit Gruppen (Familien, themenzentrierte Gruppen). Ein weiterer theoretischer wie praktischer Schwerpunkt sind Unterrichte, Trainings oder Einzelcoaching in „Kommunikation, Gesprächsführung, Konfliktklärung“. Ich habe einen Masterabschluss (M.A.) in Personzentrierter Beratung (PZB) gemacht sowie diverse Fortbildungen im psychologischen, psychsozialen sowie körperorientierten Bereich (Gesundheitsprävention). Mein Erststudium in Geisteswissenschaften (M.A.) an der Uni Köln mit dem Schwerpunkt in "Sinn- u. Seinsfragen" ist bis heute eine fortwährend hilfreiche Quelle geblieben, um Menschen und ihre Lebensbewältigungsstrategien zu verstehen.
Website: www.meinekarriere-meinweg.de
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