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Stress nur eingebildet?

Kommentar von Jürgen Kriz

Gazetten-Psychologie hat bisweilen ih­ren Unterhaltungswert. Wer könnte von sich sagen, er habe noch nie im Warte­zimmer, beim Frisör oder im Urlaub bei einem der üblichen „psycho­lo­gi­schen Tests“ innegehalten, die in den bunt schillernden Blättern einen Blick in das geheime Innenleben versprechen? Dies dient fraglos der Unter­haltung. Und wer solche „Psychologie“ ernst nimmt, wird, gottlob, in unserer Kultur wenig ernst genommen.

Etwas problematischer ist da schon das Genre „psychologische Erkenntnisse“, welches in Tageszeitungen, anspruchs­volle­ren Zeitschriften oder gar spezifi­schen Journals (wie z.B. „Psycho­logie heute“) vermeintliche Befunde aus der Welt wissenschaftlicher Psychologie für das Alltagsverständnis aufbereiten will. Denn meist wird dabei nicht vermittelt, dass selbst diese „Ergebnisse der Wis­sen­schaft“ stets von bestimmten Per­spek­­tiven, Voran­nah­men und Methodologien abhängig sind. Die dargestell­ten „Befunde“ sind somit keineswegs allgemein gültig. Sondern sie haben nur in einem Kontext Aussagekraft, der in der Regel für diese Medien viel zu kompli­ziert darzustellen wäre. Und das fak­ten­gläubige Publikum will solche Rela­ti­vierungen auch gar nicht wissen.

Da es sich bei solchen Befunden aber meist um Spektakuläres handelt, was den Abson­derlichkeiten des Lebens entspricht, die in früheren Zeiten auf dem Jahrmarkt zur Schau gestellt wur­den, kann man davon ausgehen, dass sie nach dem Bestaunen wieder in die Irre­levanz des Alltags zurückfallen. Daher richten solche Nachrichten in der Regel keinen dauerhaften Schaden an. Dennoch gibt es Grenzen, jenseits derer dann grober Unfug mit schädlichen Fol­gen beginnt. In diese Kategorie gehört leider eine Meldung, die jüngst durch etliche Medien geisterte. Unter der Über­schrift „Psychologe: Stress im Job oft einge­bildet“ äußerte sich der „Mün­ste­raner Wissenschaftler Alfred Gebert“ zur Stress-Lage der Nation. In einem ver­gleichsweise groß aufgemachten Inter­view der „Neuen Osnabrücker Zei­tung“ kritisierte Gebert die Forderung des Prä­sidenten der Bundespsycho­thera­peuten­kammer, Rainer Richter, nach einem Ak­tionsplan zur Verminderung der ho­hen Zahl an Frühverrentung auf­grund psychischer Erkrankungen. Die Zahl der Fälle sei in nur zehn Jahren um 50 % auf 75.000 gestiegen.

Die damit verbundenen Nachricht: „Ein­mal mehr schlugen ... Deutschlands Psy­chotherapeuten Alarm“ hält Gebert freilich für unangemessen. „Der meiste Stress am Arbeitsplatz ist eingebildet“, ließ er sich zitieren. „die Belastung ist hausgemacht.“ Wie die Mitarbeiter mit Druck umgehen, dafür seien sie selbst verantwortlich. „Der Stress ent­steht in seinem Kopf ... Entscheidend sind die eigenen Gedanken, und das gilt auch für Stress am Arbeitsplatz“, sagte er.

Offensichtlich sind es solche Sprüche auf Stammtisch-Niveau, die einen Pro­fessor (ehemals – und an einer FH für Öffentliche Verwaltung) zum gefragten Medienexperten und Managementberater machen. Wem Gebert aus akade­mischen Zusammenhängen so unbe­kannt sein sollte wie mir, muss nur ins Internet schauen: wohl kaum jemand ist mit seinen vermeintlich psychologi­schen Fachaussagen in einem so breiten Spektrum der Medien derart präsent. In mehreren Dutzend Beiträgen präsentiert er allein schon seine selbst ge­bastelte Cha­rakter- und Persönlichkeitstypologie, mit Autofahrertypen, Dusch­typen, Eis­schlecker-Typen, Handtaschen­ty­pen, Schuhtypen, Schreibtischtypen, usw. So etwas mag man noch mit einem Augen­zwin­kern hinnehmen.

Unerträglich freilich wird es, wenn Ge­bert sich nun zum Fachmann in Psycho­pa­thologie und Psychotherapie auf­spielt: „Die Masse an Leuten, die jetzt psychisch krank sind, müsste man mehr antreiben. Als Kind hat man Eltern, die das übernehmen … Erwachsenen fehlen strenge Eltern. Sie bräuchten – um­gangs­sprachlich ausgedrückt – einen Tritt“, vermeldete er. Da findet man an vielen dörflichen Stammtischen sicher­lich mehr Fachkunde.

Doch eigentlich geht es weniger um einen medial zu sehr gebauchpinselten Schwätzer, der nicht nur die Gren­zen seriösen Wissenschafts­journa­lis­mus, sondern auch die schadloser Volksbe­lus­tigung längst überschritten hat. Es geht vielmehr um das Phänomen, dass solche als „Psychologie“ verbräm­te, zusammengezimmerte Sozialkunde eil­fertig von zahl­reichen Zeitungen nach­gedruckt wurde – von Bild, über Welt bis hin zum Handelsblatt. Nichts scheint primitiv genug zu sein, als dass die Medien sich nicht darauf stürzen würden. Und sie nehmen dabei billi­gende in Kauf, dass solch Geschreibsel Stimmung gegen vermeintliche Sozial­schmarotzer macht und ein gei­stiges Klima weiter gegen jene schü­rt, die in einer auf Effektivität und Profitmaximierung stromlinien­för­mig ausgerich­teten Gesellschaft nicht rei­bungs­los funktionieren.

Psychisch Kranke werden da nicht mehr nur als „Kollateralschä­den“ globalisier­ten Wirtschaftswachstums und gnaden­loser Konkurrenz in Kauf genommen. Sie werden durch solche Medienverlautbarungen auch noch verächtlich und selbst dafür ver­antwortlich gemacht, dass sie ihren Beitrag zur Ver­mehrung des immer grö­ßeren Reich­tums einer immer klei­neren Gruppe nicht mehr leisten kön­nen.

Wer Stress allein als „hausgemacht“ ansieht und hinter psychischer Erkran­kung überwiegend den fehlenden „Tritt“ vermutet, dem sind wohl Bereiche unserer gegenwärtigen Lebens- und Arbeitswelt entgangen. Der verleugnet, wie im Alltag immer mehr unbezahlte Überstunden, verschleppte Krankheiten oder Hektik und Zeitdruck hingenom­men werden, um den Arbeitsplatz nicht zu verlieren. Oder wie das Arbeits­pen­sum entlassener Kollegen nun einfach im Rest-Team mit übernommen wird – zum Zwecke der „Effizienzsteigerung“.

Es ist ein Missbrauch der Psychologie, diese Zusammenhänge für die Entste­hung von Stress und psychischen Pro­ble­men zu verschleiern.


GwG-Blogger Prof.Dr.Jürgen Kriz:
Vorwiegend habe ich in den letzten Jahrzehnten wissenschaftliche Texte zu Fragen von Psychotherapie, Beratung und Coaching verfasst -  allerdings auch mit vielen Beiträgen zur Methodik von Forschung in diesen Bereichen, da gerade in Deutschland im Hinblick auf diese Fragen ein sehr verengtes, reduziertes und missverstandenes Bild von „Wissenschaftlichkeit“ vorherrscht.

Als Ausgleich für die hoch disziplinierten wissenschaftlichen und fachlichen Artikel habe ich immer schon dann und wann Satiren und kleine Geschichten verfasst (die bisweilen sogar in „pardon“ oder „scheidewege“ erschienen sind). Seit vielen Jahren schreibe ich für die GwG-Zeitschrift ein „Nachgedacht“, in dem ich aktuelle Themen und Trends in Gesellschaft und Wissenschaft aus der Sicht Humanistischer Psychotherapie hinterfrage.

Ich liebe ungewöhnliche Blickwinkel. Denn nur durch die Vielfalt der Perspektiven können die meist sehr komplexen Erfahrungsgegenstände etwas weniger reduziert und verzerrend erfasst und dargestellt werden.
Website: www.jkriz.de