Paradigmenwechsel
Kommentar von Jürgen Kriz
Im Mai 2013 tritt das neue Diagnose und Statistik-Handbuch für psychische Störungen, DSM-5, in Kraft. Dieses Werk der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung APA (nicht zu verwechseln mit der psychologischen Schwesterorganisation APA) hat auf den ersten Blick keine so große Relevanz in der BRD. Denn hierzulande gilt das Diagnosesystem ICD (Internationale Klassifikation für Krankheiten) der Weltgesundheitsorganisation WHO.
Nur mit einer ICD-Diagnose leidet hier jemand im kassenrechtlichen Sinn an einer sog. „krankheitswertigen“ Störung und darf somit auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) behandelt werden. Das gilt bekanntlich auch für Psychotherapie – mit den ICD-Diagnosen F00 bis F99. Allerdings hat sich bisher das ICD wesentlich am DSM orientiert. Und Fachleute gehen davon aus, dass die Revision des derzeitigen ICD-10 sich auch diesmal stark am DSM ausrichten wird.
Daher ist die weltweite massive Kritik an der Ausrichtung des neuen DSM auch für uns bedeutsam. Anfang 2012 wandten sich einige Fachgesellschaften in einem offenen Brief an die „DSM-V Task Force“ um vor den Gefahren und Folgen zu warnen (1). Diesem Aufruf, der inzwischen fast 15.000 mal unterzeichnet wurde, sind inzwischen weltweit 54 Fachverbände und Gesellschaften beigetreten – vorwiegend Psychologen und Psychiater aus den USA, aber auch aus England, Dänemark oder Indien; deutsche fehlen allerdings. Doch schon 2009 warnte Allen Francis – Psychiatrie Professor, Mitarbeiter des DSM-III und Chairman der Gruppe, welche das DSM-IV entwickelt hatte – eindringlich vor dem desaströsen Trend im DSM-V: Dessen „Paradigmawechsel“ werde etliche neue „Epidemien“ heraufbeschwören, denn zehn-millionenfach würden damit fälschlich normale Menschen zu psychiatrischen Patienten gemacht (2). Warum so viel Aufregung, um die (rund 25 Millionen US-Dollar teure) Revision eines Diagnose-Handbuchs?
Diagnose-Systeme können hilfreich sein: Sie reduzieren die unfassbare Komplexität der Phänomene zu fassbaren Kategorien. Von Bestimmungsbüchern für Tier- und Pflanzenarten über das Periodensystem der chemischen Elemente bis hin zu Kategorien von Bakterien- und Virenstämme oder von bestimmten Karzinomen, findet man überall solche orientierenden Zuordnungen.
Allerdings unterscheiden sich die Diagnosegruppen psychischer Störungen doch deutlich von den anderen genannten Beispielen: In Biologie, Chemie oder Medizin und Pharmakologie liegen den Kategorien wissenschaftliche Fakten über deren Einteilung zugrunde. Im Gegensatz dazu beschreiben DSM und ICD lediglich unterschiedliche Symptomkonstellationen – für keine einzige Störung ist eine klare biomedizinische Ursache nachgewiesen, auch wenn es diverse Vermutungen gibt.
Nun müssen auch solche rein beschreibenden Taxonomien nicht von Nachteil sein, wenn sie entsprechend vorsichtig verwendet werden. Doch schon DSM-IV und ICD-10 öffneten missbräuchlichem Unfug Tor und Tür. Beispielsweise setzte geradezu ein Pathologisierungsboom ein, als das DSM-IV von 1994 die kindliche Aufmerksamkeitsstörung ADHS auswies. Wurden 1993 z.B. in der BRD 34 Kg Ritalin verabreicht, waren es 15 Jahre später (trotz Geburtenrückgang) 1.634 Kg – also rund das 50-fache! Schätzungen zufolge nehmen etwa 250.000 Kinder in Deutschland Ritalin – viele Untersuchungen sprechen von bis zu 90% Fehldiagnosen: Genervte Lehrer vor zu großen Klassen äußern gern einmal den Verdacht, und Ärzte verordnen schnell ohne kompetente Diagnosen. Ähnlich mit dem „Asperger Autismus“, eine milde Form des Autismus, die im DSM-4 eingeführt wurde. Frances betont: „Wir hatten gehofft, dass sich dadurch die Zahl der Autismus-Diagnosen um ein Drittel reduzierten würde – sie hat sich aber verzwanzigfacht. Und Studien legen nahe, dass etwa die Hälfte der Diagnosen falsch sind“(2).
Angesichts solcher Beispiele ist es in der Tat bedenklich, wenn nun im DSM-V das Spektrum „psychischer Krankheiten“ und die Zahl der Diagnosen exorbitant erweitert werden. Dies geschieht (a) durch Einstufungen in „mild“, „mittel“ oder „schwer“ der Symptome – z.B. ein „Attenuated Psychosis Syndrome“ (schwache Psychose) – (b) Aufnahme auffälligen Verhaltens – z.B. „Disruptive Mood Dysregulation Disorder” (impulsive, emotional dysregulierte Kinder) – (c) die Reduktion der Zahl von Einzelsymptomen sowie deren Dauer um eine Störung zu diagnostizieren – z.B. sind jetzt schon 2 Wochen tiefer Trauer um einen Verstorbenen als „Störung“ diagnostizierbar.
Damit wird dann eine Unzahl von nicht „normgerechten“ Verhaltensweisen und Befindlichkeiten zu psychischen Störungen gemacht und nicht mehr als individueller Ausdruck in komplexen multikulturellen Kontexten verstanden.
Befürworter von DSM-5 führen ins Feld, dass viele schwere Störungen mit leichten Symptomen beginnen würden und man daher ggf. frühzeitig ressourcenorientiert und stützend therapieren solle. Die Kritiker befürchten aber, dass stattdessen vor allem die Pharmaindustrie sich weitere riesige Absatzmärk-te erschließt. Dann man darf sicher sein, dass die Pharmaindustrie Medikamente für die neuen Störungen entwickeln und auf den Markt bringen wird. Aber auch mit entsprechenden Trainingsprogrammen aus dem Hause evidenzbasierter Psychotherapie ist zu rechnen. Damit wird dann gleichzeitig die Ideologie störungsspezifischer Interventionen weiter ausgeweitet und verfestigt – zu Lasten einer ganzheitlichen Sichtweise, wie sie u.a. die humanistische Psychotherapie vertritt.
Es wäre wichtig, sich über die Gefahren dieses Paradigmenwechsels im DSM-5 anhand der beiden Quellen zu informieren und die Bedenken in die Diskurse einzubringen:
(1) Allen Frances Warnung in Psychiatric Times, 2009, http://www.psychiatrictimes.com/home/content/article/10168/1425378
(2) Offener Brief an die DSM-5 Task Force, http://www.ipetitions.com/petition/dsm5/
GwG-Blogger Prof.Dr.Jürgen Kriz:
Vorwiegend habe ich in den letzten Jahrzehnten wissenschaftliche Texte zu Fragen von Psychotherapie, Beratung und Coaching verfasst - allerdings auch mit vielen Beiträgen zur Methodik von Forschung in diesen Bereichen, da gerade in Deutschland im Hinblick auf diese Fragen ein sehr verengtes, reduziertes und missverstandenes Bild von „Wissenschaftlichkeit“ vorherrscht.
Als Ausgleich für die hoch disziplinierten wissenschaftlichen und fachlichen Artikel habe ich immer schon dann und wann Satiren und kleine Geschichten verfasst (die bisweilen sogar in „pardon“ oder „scheidewege“ erschienen sind). Seit vielen Jahren schreibe ich für die GwG-Zeitschrift ein „Nachgedacht“, in dem ich aktuelle Themen und Trends in Gesellschaft und Wissenschaft aus der Sicht Humanistischer Psychotherapie hinterfrage.
Ich liebe ungewöhnliche Blickwinkel. Denn nur durch die Vielfalt der Perspektiven können die meist sehr komplexen Erfahrungsgegenstände etwas weniger reduziert und verzerrend erfasst und dargestellt werden.
Website: www.jkriz.de
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