Online allein.
Mich ermüdet online. Je mehr Sitzungen, desto schlimmer. Nach einer Stunde schon geht es los. Meine Konzentration lässt nach, ich habe das Bedürfnis mich hinzulegen oder wegzugehen.
Was tun?
So agieren, wie es bei realen Begegnungen möglich ist.
Ja wie denn?
Wir haben hier doch nur den rechteckigen Bildschirmausschnitt? Und das mal mit einer Person, mal mit dreien, vieren oder vierzig?
Tatsache ist, man ist allein mit einem Bildschirm.
Ja, so ist es.
Und trotzdem können wir – jedenfalls als Seminarleiter - gewisse Vorgaben machen, „Prozessführung“ übernehmen, virtuelle Räume gestalten, zum Mitgestalten anregen, transparent machen, wie es einem selbst gerade geht.
Ein Beispiel aus der Praxis
Ein Online-Seminar mit eine Gruppe von acht Leuten beginnt. Thema ist die Einführung in die Psychotraumatologie. Die Vorgehensweise ist dieselbe, wie sie später in der Fachberatung oder der Therapie stattfinden kann. Zuerst kommt das gesicherte Wissen darüber, was ein Trauma ist, wie es sich symptomatisch zeigt oder zeigen kann. Welche Störungsbilder nach ICD-10 (und 11) dazugehören und dazugehören können. Dann, was daraus folgt und wie traumatisches Erleben „integriert“ werden kann. Oder aber, wenn (noch) keine Traumatherapie stattfindet oder stattfinden kann, wie man zunächst mit traumatischen Erfahrungen umgehen bzw. leben lernen kann (Stabilisierung, Distanzierung).
Also Fakten ohne Ende, Basis ist ein eigenes Curriculum von zweiunddreißig Seiten – auf der Grundlage von vierzig Fachbüchern. Nach einer Stunde Wissensvermittlung fallen den ersten TeilnehmerInnen (TN) einfach die Augen zu. Sie hätten auch vom Stuhl fallen können bei dem Info-Overlaod, den ich ihnen zumute (den sie schließlich bezahlt haben – und wo ich was bieten muss). Also Pause! Erst mal zum Örtchen, dann einen Kaffee oder Tee holen. Als alle wieder da sind, bitte ich die TN stehen zu bleiben. Wir machen Stuhlgymnastik! Die Kamera schaltet jede* aus, der Ton bleibt an.
Dann wieder Wissensvermittlung. Nach einer weiteren Stunde folgt eine Zweier-Übung im Break-Out-Room: erst mal nur einander wahrnehmen, nicht reden, gucken wie das Licht ist, wieviel vom anderen zu sehen ist, wie „der Raum“ ist. Das heißt, mediales Bewusstsein schaffen. Nach der Rückkehr Austausch darüber, was aufgetaucht ist. Und weiter mit Wissensvermittlung. Erneut Pause nach einer Stunde. Die TN bitten, sich entspannt hinzusetzen (Kamera aus!) oder hinzulegen. Was entspannt sein heißt, wird hier kurz angeleitet.
Jetzt kommt Focusing. Was Petra Claas für Personzentrierte Traumatherapie in ihrem Buch sehr ausführlich beschreibt. Jetzt und hier jedoch ist es die wunderbare Focusing-Übung von Klaus Renn: Einfach mal den Satz in sich hineingeben „Ich bin mit meinem Leben voll und ganz zufrieden.“ Da kommt ein erstes „Nein“, was sein darf, seinen Platz bekommt … und so weiter.
Diese Übung dauert ein Viertelstündchen. Dann hole ich alle zurück vor die Kamera. Wie war es? Die Resonanz ist erstaunlich. Immer wenn ich Focusing mache, frage ich mich im Stillen, wieso das bei Menschen funktioniert, die noch nie Focusing gemacht haben. Und dann auch noch online. Ja, es funktioniert. Die Kraft der Imagination ist unglaublich. Was Luise Reddemann seit sehr vielen Jahren gerne und oft publiziert, weshalb es alle traumatherapeutisch oder traumafachberaterisch vorgebildeten Menschen von daher schon zu kennen scheinen.
Nach Focusing folgt die Mittagspause. Nach der Mittagspause sind alle mehr oder weniger im Verdauungskoma. Wie bekomme ich die Leute wieder wach? Denn online heißt für den Seminarleiter: mehr entertainern, als in jeder Präsenzveranstaltung.
Jedenfalls kommt es mir so vor. Weil ich online nicht mag? Und auch trotzdem froh bin, dass wenigstens diese krass reduzierte (un)sinnliche Art der Begegnung (mit vielen Menschen) in Corona-Zeiten geht.
Das Gehirn ackert wie verrückt
Schließlich lenke ich den (bewussten) Focus darauf, was alles nicht funktioniert bei „online“ - weshalb wir dann so müde werden: Das Gehirn scannt und scannt in gewohnter Weise vor dem Bildschirm, als wäre es in einer realen Szenerie. Es bekommt jedoch nur Informationen über das Sinnesorgan Auge. Und das nur ausschnitthaft (Bildschirm). Es gibt nichts zu riechen (vom Gegenüber), nichts (oder wenig) zu fühlen, kaum Gestik (wird auch weniger empfohlen, weil vor dem Bildschirm zu „dramatisch“?), kaum Mimik – und gar kein Gesamteindruck. Dazu noch ist entweder die andere Person oder die sprechende Person (je nach Einstellung) als Kopf nah und groß im Bild, was einem sonst nur „beim Sex oder beim Kampf“ widerfährt. Oder aber, die/der andere ist klein gebildert und damit gefühlt und in echt, weit weg. Dazu gibt es einen „räumlichen“ Hintergrund, der bei jedem anders ist. Mal ein Hintergrundbild, oft aber oberer Wandbereich und Deckenlampe oder Ausschnitte von Wohnzimmer, Küche, Arbeitszimmer, Schlafzimmer. Was mir persönlich gefällt, weil es etwas vom Menschen miterzählt, „natürlicher“ erscheint – jedoch unter Profis als unprofessionell gilt. Professionell dagegen ist der Ausschnitt Kopf, Schultern bis Brustbein – und LOGO-Aufsteller vor weißer Wand im Hintergrund. Professionell halt. Zum Weinen kahl und kalt, sag nur ich.
Abgesehen von Beurteilungen der Wohnsituationen, die sich im Innern eines jeden einschleichen, lenkt viel Visuelles im kleinen Bildschirmrechteck auch ab. Oder aber, da ist eben nichts, außer einem Kopf und einer weißen Wand dahinter – und auch das lässt viel Platz für Gedanken. Nun ja.
Diese Herausforderungen über Stunden hinweg ist unser Gehirn, wie wir inzwischen von Neurologen längst wissen, einfach nicht gewohnt. Und – es gewöhnt sich auch nicht daran. Zusammengefasst, das Gehirn bekommt nicht, was es aus mehrhundertausendjährigem evolutionärem Kontext kennt. Der älteste Knochenfund des modernen Menschen ist ca. 315.000 Jahre alt, sagt Wikipedia. Im Online-Kontakt mit Menschen werden also alle Sineseindrücke der Sinnesorgane abgerufen, auch wenn da nichts ist. Das Gehirn oder unser Selbst will trotzdem mehr unterbewusst als bewusst dahinter kommen, wer das virtuelle Gegenüber ist. Wie wir es einschätzen sollen und können. Dabei geht im Dauerscann mit möglicherweise geteiltem Bildschirm (und dazu die Power-Point-Präsentation lesend) nicht selten unter, was gesagt wird. Klingt allein schon anstrengend und ermüdend? Ist es auch.
Wozu sage ich das alles?
Abgesehen davon, dass reden (und auch schreiben mir) immer hilft, sage ich das alles, weil ich sooooooo verdammt froh bin, wenn, wie jetzt, Präsenz wieder geht – und Präsenz vor Online geht. Und weil online – beraterisch, therapeutisch, trainerisch oder dozentisch – zu arbeiten zeigt, wie sehr uns Beziehungen als echte Begegnungen fehlen, fehlen können, gefehlt haben und fehlen werden. Sollte es noch mal pandemisch so weit kommen. Was leider nicht ausgeschlossen werden kann.
Darüber reden hilft aber. Mir jedenfalls. Und Beziehungen feiern hilft auch. Jetzt. Wo immer es geht. Selbstverständlich getestet, geimpft oder genesen!
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