Mit Bedrohung umgehen 2.0.
Wie gelingt es, den täglichen digitalen Medienwahnsinn zu überleben? Das kann man sich im aktuellen GwG-Themenheft zur „Resilienz“ eindeutig fragen.
Ich stelle mir diese Frage persönlich schon lange und oft. Sobald ich den Webbrowser öffne oder ein E-Mailprogramm, bin ich schon mittendrin und gefordert. Das Web ist ein Jackpot, wenn ich nach Herausforderungen im Sinne von zu bewältigenden, unvorhersehbaren, schrecklichen Situationen suche. Es gibt einiges, über das man sich im Internet im Allgemeinen aufregen kann. Ich kann das auch ganz gut. Ich kann auch gut „entsetzt“ sein, über einiges, was ich im Netz sehe. Ich meine nicht „irritiert“. Ich meine tatsächlich empört, entsetzt und teilweise ungläubig bis fassungslos. Ich finde beispielsweise diese ganzen Werber und Neunmalkluge aus nicht-wissenschaftlichen Nachbardisziplinen in unserer Berufslandschaft unerhört. Da wird auf eigenen Websites oder in Foren für sich geworben, und ich frage mich bei manchen Leuten manchmal, warum sie nicht ein bisschen mehr Schamgefühl oder zumindest angemessenes Selbsteinschätzungsvermögen und Anstand besitzen. Ja, merkste was? Da ist viel Kraft im Ärger – vielleicht agile Arroganz?
Wenn ich von den Dingen spreche, die mich erschüttern, dann spreche ich von ganz anderen Phänomenen. Ich spreche von Gewalt. Gewalt, die durch meinen Bildschirm direkt in mein Hirn und mein Herz springt. Ungeschützt sitze ich dann alleine damit da. Schlucke.
Durch die Resilienzbrille betrachtet gilt gemeinhin, dass das Maß der persönlich vorliegenden Risikofaktoren in Bezug zum Maß der vorhandenen Schutzfaktoren unseren realen Alltag, unser Wohlbefinden bedingt.
Unter widrigen äußeren Bedingungen oder in Krisenzeiten stabil zu bleiben und die jeweiligen, eigenen Funktionalitäten zu erhalten, sollte uns PZAler/innen doch wohl gelingen, nicht? Wir beschäftigen uns ganz selbstverständlich mit uns selbst, unserer Kongruenz. Wir sind recht gut ausgebildet in Selbstwahrnehmung, Selbstempathie. Und es ist ja unser Job, uns mit Möglichkeiten zu befassen, die uns flexibel sein lassen, mit neuen Erfahrungen so umzugehen, dass wir sie in unser Selbstkonzept integrieren können und gesund sind.
Schutzfaktoren im Sinne von hilfreichen Resilienzfaktoren sind unter anderem die Fähigkeit mit Humor, Achtsamkeit, Entspannung, einem sozialen, tragenden Netz, Sinnlichkeit, Perspektivwechseln, Selbstwertschätzung vertraut zu sein und dies bei Bedarf abrufen zu können. Bildung, Kommunikationsvermögen, Gesundheit, das Vorhandensein von Träumen, Visionen – alles hilfreich. Das Wissen darum, Krisen bewältigen zu können, ist unbezahlbar.
Mich trifft es in besonders tiefer Weise, wenn ich mit dem Leid in der Welt konfrontiert werde. Über Facebook, das Portal, das ich täglich mehrfach betrete, habe ich neben privaten Kontakten viele Nachrichtendienste, Hilfsorganisationen, Initiativen abonniert. Viele „schöne“ Meldungen gehen da quasi fast unter, bei der Flut der „schlechten Nachrichten aus der Welt“.
Neben den Nachrichten an sich, die schon schlimm genug sind, um mir regelmäßig Tränen des Mitgefühls und der Trauer in die Augen zu treiben, sind es die krassen Kommentare einiger Nutzer, die mir regelrecht einen riesigen Kloß im Hals und erhöhten Puls verpassen. Ich kann da im ersten und auch zweiten Moment recht schwer auf die oben genannten Schutzfaktoren zugreifen.
Dieses Netz ist manchmal so fies, wie das gruseligste Ungeheuer, das man sich vorstellen kann.
Vor genau einem Jahr erfuhr ich vom Tod einer engen Bekannten, ursprünglich Klientin und später Referentin in Projekten von mir. Ich fragte mich, ob ich träumte, als ich auf der Facebookseite dieser Bekannten den Eintrag eines ihrer Freunde las: „Lisa, why so soon?“ Ich schrieb ihn privat an, was das zu bedeuten habe. Er antwortete mir, dass Lisa ein paar Stunden zuvor bei einem Autounfall verstorben sei. Scheiß Internet.
Ich war nicht allein. Alle Freundinnen und Freunde von ihr begriffen nach und nach, was geschehen war. Wir trauerten gemeinsam. Man schrieb sich private Nachrichten, einige posteten Kommentare oder Bilder. Man kondolierte und hielt sich gegenseitig.
Ich erlebe Zwiespältigkeit in mir: einerseits finde ich diese Öffentlichkeit und übergangene Privatsphäre pietätlos und abstoßend. Andererseits ist es meine ganz persönlich empfundene Verzweiflung über den Tod selbst und den Wunsch, damit nicht allein zu sein. Begreifbar wird Erfahrung durch Begegnung. Nein, das Internet ist an dieser Stelle also nicht schuld. Ohne es, hätte ich wohl bis heute nicht von dem Unglück erfahren. Bis heute geht es mir schlecht mit meiner unfassbaren Trauer um die junge Frau. Das Mitgefühl mit ihrer Familie und ihren Freunden, Bekannten, Kollegen ist groß. Helfen die hier verborgenen Resilienzfaktoren, mit dem Schock und der Trauer besser umzugehen, als ohne?
Ich möchte die Frage aufwerfen: Was heißt das nun alles für den Umgang mit dem Internet in Korrelation zu notwendigen Schutzfaktoren, die man sich vermutlich zulegen und ausbauen sollte?
Sollen wir unsere Kinder möglichst früh und lang mit dem Smartphone daddeln lassen? Sollen wir alle einen Youtube-Kanal anlegen, um als humanistische Influencer die Gesellschaft mit zu formen?
Sollte man sich besser aus dem Ganzen zurückziehen? Letztlich wissen wir nie, was der nächste Tag im Internet – ach, was sage ich! – die nächsten Stunden in der digitalen Welt Neues bringen.
Wir könnten zu kleinen T-Helfer-Internet-Resilienz-Zellen werden. Influenzer, Youtube-Stars, Blogger: Hüther ist schon einer. Precht. Die #ichbinhier-Leute. Sie können etwas FÜR alle Nutzer/innen im Sinne von „positive Impulse setzen“ tun.
Ich bin beeindruckt von Journalisten und Aktivisten wie beispielsweise Rayk Anders, der für die Doku über Hater und Trolle „Lösch Dich! So organisiert ist der Hass im Netz.“ verantwortlich ist und damit aufklärt. Wissen ist eine Vitaminbombe für mein Resilienz-Immunsystem.
Als Nutzer/innen selbst bleibt uns dies: Wir finden Wege, uns zu stärken. Zu stärken, um den täglich neuen Überraschungen offen und gleichzeitig möglichst „unkaputtbar“ entgegenzutreten. Denn eins steht wohl fest: Ohne Medienkompetenz und Teilhabe bist Du raus. Als Mensch und Nicht-Maschine, bleibst Du angreifbar und verwundbar, egal wo.
Wir sollten uns als GwG-Community mal ernsthaft überlegen, was wir tun können, um Resilienz bei uns und unseren Klienten/innen im Kontext „Internet trifft Hass & Gewalt“ zu unterstützen.
Meine persönliche Zauberformel: Raus in den Wald oder in den Garten. Hauptsache, frische Luft! Beherrscht digitale Pausen nehmen.
Bis dahin,
Ihre und Eure Meike Braun
PS: Resilienzfördernd ist es auch, hier und da einfach nette Nachrichten zu bekommen. Meine E-Mailadresse: braun@gwg-ev.org.
PPS: Zum Einstieg für diesen Artikel ließ ich mich durch Michael Meyens Artikel anregen: „Resilienz als diskursive Formation. Was das neue Zauberwort für die Wissenschaft bedeuten könnte.“ In: Resilienz, 2015. http://resilienz.hypotheses.org/365 (abgerufen am 30. April 2018)
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