Krieg dem Terror?
Dieser Beitrag entsteht Mitte November 2015 – in Tagen, in denen die Medien übervoll sind mit Sonderseiten und Sondersendungen zu den blutigen Terroranschlägen in Paris. Auch ich kann mich dem Entsetzen, das diese Geschehnisse auslösen sollten und ausgelöst haben, nicht entziehen. Das will ich auch gar nicht – ebenso wie ich mein Mitgefühl mit den Opfern nicht unterdrücken will und meine Erleichterung darüber, dass das Vorhaben misslungen ist, Sprengsätze im Fußballstadion zu zünden um eine Massenpanik unter den zehntausenden Zuschauern auszulösen. Ich stehe dazu, dass auch für mich der aktuelle Fokus auf die Gräueltaten in Paris anderes in den Hintergrund drängt. Manche scheinbar so wichtigen Probleme und Sorgen werden da etwas unscheinbarer.
Aber eben nicht alle und nicht lange: Nach etlichen Tagen massenmedialem Hype spüre ich meine trotzige Reaktion: Wo bleiben eigentlich die Millionen jährlich elend verhungernden Kinder in den Medien (um nur ein „alltägliches“ Problem zu nennen)? Nun ja: Das ist nichts Neues. Aber ist etwas, an das wir uns offensichtlich gewöhnt haben und das daher keinen „Neuigkeitswert“ besitzt, deswegen weniger entsetzlich? Gewiss nicht! Auch wenn wir andersherum nicht versuchen sollten, die „Entsetzlichkeit“ quantitativ an der Anzahl der Toten zu vermessen. Aber es handelt sich weder hier noch dort um unausweichliche Naturkatastrophen, sondern um etwas, was Menschen anderen Menschen antun; sei es in fanatischer Mordabsicht, sei es aus Profitgier oder auch „nur“ aus Blindheit für verursachtes Leiden anderer. Denn diese Kinder sterben nicht einfach so. Manche sterben, weil Spekulanten aus dem Nahrungsmittelsektor sowie aus Ackerböden, Rohstoffen und anderen Ressourcen der „3. Welt“ einen todbringenden Markt mit Profitmaximierung gemacht haben. Andere sterben an der rücksichtslosen Vergiftung industrieller Umwelten, der Schaffung von Arbeitsbedingungen, wo sie in ätzenden Flüssigkeiten watend Schuhe oder Kleidung für die „Edelmarken“ der westlichen Welt herstellen, oder durch Arbeit in maroden aber daher umso profitableren Fabriken, in denen tödliche Unfälle eher typisch sind.
Wenn nun Frankreichs Präsident Hollande in einer Rede vor beiden Kammern des Parlaments die Terrorattacken von Paris als „einen Angriff auf unsere Werte, unsere Jugend, unseren Lebensstil“ bezeichnet, meint er ganz sicher nicht den eben skizzierten Lebensstil und die damit verbundene Orientierung an einer maximalen „Wert-Schöpfung“. Vielmehr meint er etwas, das als „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ bereits seit der französischen Revolution Inbegriff von humanistischen Werten menschlichen Zusammenlebens gilt und das daher nicht nur in den Verfassungen vieler Staaten zu finden ist, sondern auch in Artikel 1 der UN-Menschrechtscharta. Und in der Tat sind dies Werte, welche die blindwütigen pseudo-religiösen Fanatiker und Terroristen, allen voran der sogenannte „Islamische Staat“, bekämpfen, weil es nicht ihrer „einzig wahren“ Überzeugung entspricht. Dass dieser intolerante Wahn auch auf Menschen, die in Europa sozialisiert wurden, eine erschreckende Faszination ausübt – allein in Frankreich sollen sich fünf- bis achttausend junge Menschen dem IS angeschlossen haben – bedürfte dringend (auch) psychologischer Forschung und macht diese Terroristen nur noch gefährlicher.
Gleichwohl ist mit Blick auf die oben angerissenen Probleme zu fragen, wie weit diese von Hollande beschworenen Werte nicht auch von anderer Seite bedroht werden. Denke ich an nur wenige Hauptnachrichten innerhalb nur einer Woche „vor Paris“, dann verweist der VW-Skandal, die Korruption bei der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft(en), der Ausschluss des russischen Leichtathletikverbandes, das unwürdige Gerangel der europäischen Staaten um die Flüchtlingsströme und vieles mehr auf den globalisierten Werteverfall unseres Raubtierkapitalismus. Und „unsere Jugend“ wird eben auch von Arbeitslosigkeit, Niedrigrente und zunehmender Perspektivlosigkeit bedroht – und von der Befürchtung, dass die klaffenden Ungleichheiten auf diesem Planeten, die nicht zuletzt mit „unserem Lebensstil“ zusammenhängen, für eine langfristig friedliche Zukunft nicht förderlich sind, sondern zu weit größeren Konflikten und Verwerfungen führen könnten, als wir sie derzeit beobachten und erleben.
Solchen Gefahren kann aber nicht mit Krieg begegnet werden. Die schier unfassbare Menge an Bomben und Kriegsmaterial, bis hin zu Marschflugkörpern und Drohnen, hat weder Sicherheit noch Frieden noch Stabilität geschaffen – weder im Irak, im Iran, in Afghanistan, in Syrien noch sonst wo. Umgekommen sind dabei vor allem zehntausende Menschen aus der Zivilbevölkerung, und noch mehr sind verstümmelt und traumatisiert. Millionen Menschen wurden in die Flucht getrieben.
Daher ist die nun – hoffentlich nur kurzzeitig – ausgebrochene Kriegsrhetorik fehl am Platz. Statt unsere Kreativität auf immer effektivere Kriegsführung „gegen den Terror“ zu richten, wäre vielleicht eher eine Besinnung darauf angebracht, wie wir dem internen Werteverfall begegnen können. Dazu sollten wir weit mehr Diskurse über die Frage einfordern, wie wir eigentlich leben wollen.
Wir alle können daran mitwirken, dass der Kontext, in dem unsere Entscheidungsträger handeln, nicht primär von Profit und Effektivität bestimmt wird, sondern sich mehr an Fragen nach Werten orientiert. Langfristig kann eine Kultur nicht durch Bomben, Abschottung oder Krieg überleben, sondern nur durch Diskurse über und Realisierung von solchen Werten, welche die Zukunft aller Menschen auf diesem Planeten im Auge haben.
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