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Kann man Rogers auch missverstehen? Aber ja, und wie!

Von Schirach spricht dort davon, wie sie Rogers Begriff der „Aktualisierungstendenz“ versteht: “Ich verstehe Rogers so, dass er glaubt, der Mensch habe eine innewohnende Tendenz zum Guten. Daran zweifle ich.“ Zu recht, möchte man sagen...

von Christa Kosmala

 

Dort, wo sich so ein Missverstehen ereignet – und es, wie gerade aktuell, publiziert ist – ergibt sich die Chance noch mal genauer hinzuschauen. Hier ganz konkret meine ich das Thema „Aktualisierungstendenz“.

Also danke ich erst mal Ariadne von Schirach, dass sie es aufgegriffen hat im Interview mit der Fachzeitschrift Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung (3/2021, S. 6 f). Von Schirach spricht dort davon, wie sie Rogers Begriff der „Aktualisierungstendenz“ versteht: “Ich verstehe Rogers so, dass er glaubt, der Mensch habe eine innewohnende Tendenz zum Guten. Daran zweifle ich.“

Zu recht, möchte man sagen.

Denn Aktualisierungstendenz als eine Tendenz zum Guten ist einfach ein wunderbares Missverständnis, dass immer wieder auftaucht und aufgetaucht ist – und der komplexen Gedankenwelt, die Rogers Ansatz zugrunde liegt, nicht entspricht. Wunderbar deshalb, weil es die Gelegenheit bietet, hier und jetzt mit einer Reihe von eindeutigen Originalzitaten Rogers zu antworten und so zum Verständnis beizutragen.

Rogers versteht unter der Aktualisierungstendenz „eine dem Menschen innewohnende Tendenz, sich selbst zu verwirklichen, d.h. seine Möglichkeiten konstruktiv in die Wirklichkeit umzusetzen“, was der „Erhaltung, Entfaltung und Steigerung dient“ (Frenzel u.a., S. 64 ff). Von einer Tendenz zum Guten kann jedoch nicht die Rede sein. Denn es kommt immer darauf an, wie die Entwicklungsbedingungen sind.

Die Aktualisierungstendenz ist erst mal losgelöst von „gut“ oder „schlecht“ eine Wachstumstendenz oder Selbstverwirklichungstendenz (ebd.). Sie ist als solche das einzige Axiom in Rogers Theorie und steht zum Beispiel explizit in seiner „Theorie der Psychotherapie […]“ von 1959 :

 „Es sei darauf hingewiesen, daß diese grundlegende Aktualisierungstendenz das einzige Motiv ist, welches in diesem theoretischen System als Axiom vorausgesetzt wird. Es sei darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, daß diese Tendenz nur dem Organismus in seiner Gesamtheit innewohnt. Es gibt keinen Homunkuli, keine anderen Energie- und Aktionsquellen in diesem System. Das Selbst zum Beispiel ist ein wichtiges Konstrukt unserer Theorie, aber dieses Selbst `tut` selbst nichts. Es ist nur eine mögliche Erscheinungsform dieser organismischen Tendenz, die den Organismus erhält und entwickelt. (Rogers 1, S. 29)“

Ein Motiv also oder eine innewohnende Motivation, wonach der Organismus wachstums- und entwicklungsorientiert ist, was man zum Beispiel bei einem Baby gut auf der motorischen Ebene sehen kann. Es kann erst nur herumliegen, beginnt sich dann zu drehen, zu krabbeln, lernt als Kleinkind dann laufen, bis es größer werdend immer sicherer wird und bald auch springen, hüpfen oder tanzen kann.

Die Wachstums- oder Verwirklichungstendenz findet selbstredend zugleich auf der psychischen Ebene statt und gerade darum geht es. Sie kann, je nach Bedingungen durch engste Bezugspersonen oder eine rigide Umwelt, eben auch ganz in die falsche Richtung gehen. Insbesondere dann, wenn die Selbstaktualisierungstendenz, zuständig für das Selbstkonzept, der Aktualisierungstendenz im Menschen entgegen steht.

Wenn also das Selbstkonzept bedroht zu sein scheint, kann die Aktualisierung behindert werden und etwas nicht Stimmiges abgespeichert werden, dass gar nicht gut für den Organismus ist. Das heißt eine Erfahrung wird nicht so symbolisiert, nicht so im Bewusstsein aufgenommen , wie sie erlebt wird, sondern sie wird verzerrt, verleugnet, verdrängt, es findet also keine Gewahrwerdung statt.

„Es muss wohl kaum bemerkt werden, daß es eine Unzahl von Umständen in der Welt gibt, die den menschlichen Organismus davon abhalten, sich in Richtung auf Aktualisierung hin zu bewegen. Diese Elemente, die den Organismus umgeben – sei es auf physischer oder psychischer Ebene – können bedeuten, daß die Aktualisierungstendenz im Wachstum behindert oder gänzlich zum Stillstand gebracht wird; daß sie […] eher sozial destruktive als konstruktive Wege einschlägt (Rogers/ Schmid 2, S. 212)“.

Beispiel: ein kleines Kind schreit vor Schmerz auf, weil es sich gestoßen hat und die (enge) Bezugsperson signalisiert ihm immer wieder Verachtung, Ablehnung, Genervt-sein, vielleicht mit einem Satz wie: „Stell dich nicht so an!“. Da das Kind auf das Geliebt-werden, auf Zuwendung, Wahrgenommen-werden, Angenommen-werden angewiesen ist, wird es mit der Zeit seinen Schmerz verleugnen, um nicht immer wieder erneut die Ablehnung der Bezugsperson zu erleben (anstatt darin verstanden zu werden, was es erlebt). Die Schmerzunterdrückung wird damit verstärkt. Das Kind wird die „falsch-positive“ Beachtung durch die Bezugsperson für das Verleugnen von Schmerz verinnerlichen, also für richtig halten und sein Selbstkonzept in diese (organismisch falsche) Richtung „aktualisieren“. Es wird den Schmerz zwar trotzdem immer wieder körperlich erleben, wenn es sich heftiger stößt, das heißt, der Organismus wird weiterhin signalisieren, „das hat wehgetan“. Die Selbstaktualisierung jedoch heißt inzwischen auch im Innern des Kindes, „stell dich bloß nicht so an“. Denn sonst wirst du abgelehnt, nicht geliebt, nicht geachtet. Also verleugne den Schmerz, sei fügsam und unauffällig.

„Erfahrungen, die mit dem Selbstkonzept des Individuums unvereinbar waren, wurden der Gewahrwerdung vorenthalten, ungeachtet ihres sozialen Charakters. Wir begannen das Selbst als einen Bereich zu verstehen, in dem der Organismus Erfahrungen aussortiert, die vom Bewusstsein nicht problemlos zugelassen werden können“ (ebd. S. 28) .

Daraus ergibt sich ein „Zustand der Spannung und inneren Konfusion“,

„… weil hinsichtlich einiger Aspekte das individuelle Verhalten durch die Aktualisierungstendenz, bezüglich anderer Aspekte jedoch durch die Selbstaktualisierungstendenz geregelt wird, so daß dadurch ungeordnetes oder unverständliches Verhalten entsteht“ (ebd. 29).

Es findet eine Verzerrung der Erfahrung im Bewusstsein (hier des kleinen Kindes) statt, um auf diese Weise „die Nichtübereinstimmung zwischen Erfahrung“ (Schmerz) und Selbststruktur (ich darf den Schmerz nicht spüren, nicht zeigen) zu reduzieren oder von der Gewahrwerdung fern zu halten, um so die Bedrohung des Selbst (synonym für Selbstkonzept) zu vermeiden (ebd., vgl. S. 31). Die Bedrohung, um es genau zu sagen, ist in diesem Fall, den Schmerz zu spüren – und ihn nicht symbolisieren zu dürfen oder zu können oder ihn gar nicht mehr wahrzunehmen, damit das Selbstkonzept „ich kann Schmerzen ignorieren oder aushalten“ bestehen bleiben kann, wofür ich dann „falsch-positive Aufmerksamkeit“ bekomme oder zumindest keine negative Aufmerksamkeit, also nicht abgewertet werde.

Rogers nennt die Aktualisierungstendenz und die Selbstaktualisierungstendenz an anderer Stelle auch „zwei sich widerstreitende Antriebssysteme“ (Rogers 3, 271). Und wie könnte es mit dem kleinen Kind nun weiter gegangen sein, wäre es inzwischen zum Beispiel eine erwachsene Frau?

„Um ein einfaches Beispiel zu nehmen, wie kommt es, daß eine Frau, die an der Oberfläche sehr nachgiebig und fügsam erscheint, gelegentlich einen Agressionsausbruch hat, der sie sehr überrascht und den sie quasi nicht als Teil ihrer selbst anerkennen kann? Ihr Organismus hat zweifellos sowohl Fügsamkeit als auch Agression erfahren und nach Möglichkeiten gesucht, beide Gefühle zu äußern. Der eine Aspekt dieses in ihr ablaufenden Prozesses ist ihr jedoch weder bewußt noch akzeptiert sie ihn“ (ebd., 271).

Diese Inkongruenz (Nichtübereinstimmung von der Erfahrung des aggressiven Ausbruch und dem Selbstkonzeptaspekt, der da sagt, dass das gar nicht ihre Art ist, nicht zu ihr gehört, aggressiv zu sein) kann durchaus auch wieder verändert werden durch „korrigierende Erfahrungen“ zum Beispiel, wie sie in der Beratung oder Therapie geschehen können – oder auch in anderen Selbstreflexionsprozessen.

Korrigierende Beziehungserfahrungen sind eine wirklich wunderbare Sache.

 

Literatur:

  • Ariadne von Schirach (2021), in: Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung (3/2021), Köln: GwG-Verlag.
  • Frenzel, Keil, Schmidt, Stözl (2001): Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie. Kontexte, Konzepte, Konkretisierungen. Wien: Facultas
  • 1 Rogers, Carl R. (1959/1987): Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des Klientenzentrierten Ansatzes. Köln: GwG-Verlag.
  • 2 Rogers/Schmid (1980/2004): Person-zentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis. Mit einem kommentierten Beratungsgespräch von Car. R. Rogers. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag.
  • 3 Rogers, Carl R. (1964/1992): Die Kraft des Guten. Ein Appell zur Selbstverwirklichung. Frankfurt a.M.: fischer tb-Verlag.