Im Internet tickt die Uhr anders
Auch ich nahm am GwG-Jahreskongress im Juni in Würzburg teil. Der Termin hat Jahr für Jahr einen festen Platz in meinem Kalender. Nirgends sonst empfinde ich im beruflichen Kontext eine Zeit als so reichhaltig und wertvoll. Da sind die wunderbaren Augenblicke, wenn ich nach einem Jahr wieder auf lieb gewonnene Menschen treffe. Mit vielen habe ich in der Zwischenzeit nur temporär Kontakt per E-Mail, maximal Telefon, vorwiegend aber via Social Media. Also vor allem über Facebook. Zugegeben ist die Beschreibung „Kontakt haben“ nicht ganz richtig, wenn man darunter Dialog versteht. Es ist dann mehr ein „Bei-dem-anderen-Sein“, sobald Statusnachrichten, Mitteilungen, Bilder oder Infos gepostet werden. Oft sind es kurze Momente, die ungefähr 1 bis 10 Sekunden andauern. Ein kurzer Klick für ein symbolisches „So stehe ich dazu“. Das Gegenüber kann es verstehen als „So stehe ich zu dem, was du da gepostet hast“ oder als „So stehe ich zu dir“. Manchmal wird ja auch kommentiert und sogar darauf geantwortet, was zu kurzen Dialogen führen kann. Geschätzte Dauer: maximal zwei Minuten.
Beim Jahreskongress haben wir fast drei Tage Zeit, um von Angesicht zu Angesicht miteinander zu sein. Selbst wenn wir zwei Stunden in einem Vortrag sitzen, sind wir doch miteinander, spüren die Stimmungen, sehen Zustimmung, Kritik, Trotz oder Glückseligkeit in Gesichtern. Ein paar Eindrücke davon gibt es unter diesem Link: goo.gl/fLnksS.
Mittlerweile ist das „offene Forum“ ein etabliertes Format im Rahmen des Kongresses. Die Kolleginnen und Kollegen des Orga-Teams, allen voran Gabriele Isele und Reinhold Schmitz-Schretzmair, laden dazu ein, sich in Kleingruppen zusammenzutun und sich jeweils eine Zeit lang mit einzelnen Themen zu beschäftigen. Dieses Jahr war das Phänomen der Prozesshaftigkeit der rote Faden des Kongresses. Dazu standen verschiedene Unterthemen aus dem personzentrierten Kontext zur Wahl. Erste Kleingruppen bildeten sich. Mein erster Impuls war: „Ach nö … nicht schon wieder. Damit hab ich mich das letzte Jahr so viel beschäftigt. Ich könnte jetzt auch gut rausgehen und einfach eine Tasse Kaffee trinken. Oder einfach ein paar Fotos knipsen ...“ Aber ich habe den inneren Schweinhund überwunden und mich einer Gruppe angeschlossen, die sich dem übrig gebliebenem Unterthema annahm: „Rogers sechs notwendige und hinreichende Grundbedingungen für Persönlichkeitsentwicklung im Kontext zum Prozessblick“. Welch ein Glück, dass alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer wohl den Kaffeedurst gemein hatten und kurzerhand zu einem benachbarten Italiener umsiedelten! Bei einem doppelten Espresso blickten wir auf das Blatt mit den bekannten sechs Bedingungen. In zwanzig Minuten sehr konzentrierten Austauschs entstand im Prozess für mich ein neuer, schärferer Blick auf diese Bedingungen im Hinblick auf den Prozessfaktor Zeit. Es erschlossen sich mir drei Dimensionen bei den Bedingungen: 1. mit Blick auf einen Gesamtberatungs-/Therapieprozess, 2. mit Blick auf eine Sitzung oder Stunde und 3. mit Blick auf jeden einzelnen Moment, jede Intervention und die jeweilige Reaktion des/der Klienten/in. Ich fühlte mich sehr beschenkt. Das sind die wertvollen fachlichen Erkenntnisse, die ich nur auf dem Kongress erhalte. So viel Kompetenz und Wissen, das nur auf diese direkte Weise zu „mehr“ wird!
Der GwG-Jahreskongress umfasst drei Tage – von insgesamt 365 Tagen eines Kalenderjahres. Was passiert an den restlichen? Privat wie beruflich gibt es ja auch unterschiedliche, lang andauernde Prozesse. Kurze Augenblicke, mehrstündige, mehrtägige oder gar mehrwöchige Phasen. Im realen Leben zumindest. Im Internet tickt die Uhr ganz anders. Zack, zack, zack. Kaum gesehen, schon vorbei. Kaum einer scheint beispielsweise ganze Artikel zu lesen. Überschriften müssen reichen, um sich eine Meinung zu bilden. Zumindest scheint dass bei 98 Prozent der Menschen so zu sein, die ich im Alltag bei Facebook, Xing oder Twitter erlebe. Wie sind diese Prozesse zu betrachten oder gar zu bewerten? Und: Wie bewerten Sie das, was Sie via E-Mail oder generell im Internet im Sinne einer Prozessbetrachtung erleben?
Meines Erachtens lohnt sich hier mal wieder ein Blick auf die persönliche Erwartungshaltung.
Wenn ich ALLES, was im Internet geschieht, also das WWW selbst, als besonders zu betrachtenden Teil einer für jedermann individuellen Erlebenswelt achte, lasse ich mich auf ein äußerst unbeständiges Land ein: Trends, Themen, auch die, mit denen man selbst zu tun hat, wechseln teils in Sekundenschnelle. Es gibt selten einen klaren Anfang oder gar ein klares Ende eines Prozesses mit etwas oder mit jemanden.
Alles also insgesamt gesehen doch in „bester Ordnung“: Wohin Du schaust – alles Leben ist doch ein unverwechselbarer und unaufhaltsamer Prozess. Zumindest darauf kann man sich auch im Internet verlassen.
Eine gute Zeit wünscht
Meike Braun
E-Mail: braungwg-ev.org
„Im Internet tickt die Uhr anders“ in Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung, Heft 3/2017
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