Im Dilemma – Fragen und Zweifel
Es ist Anfang Mai und ich versuche meine Gedanken angesichts des Krieges in der Ukraine zu sortieren. Wie viele, die ich kenne, bin auch ich hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Ansichten, wie darauf reagiert werden soll. Die Relativierungsgeschwindigkeit von Überzeugungen, Meinungen, Positionierungen hinsichtlich dessen, was klugerweise zu tun wäre, ist rasant. Habe ich gerade noch eine klare Meinung, lassen mich im nächsten Moment andere Argumente oder eine andere Sichtweise wieder zweifeln.
Die meisten von uns wurden überrascht von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, hatten sich darin eingerichtet, in Europa nach Beendigung des Kalten Krieges auf Entspannung, Annäherung und Wandel durch Handel zu setzen. Mögliche Warnsignale hat es zwar gegeben – vor allem jetzt in der Rückschau werden sie deutlich –, aber sie haben die Welt nicht ausreichend alarmiert. Auch der Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine wurde zunächst mehr als bloße Drohgebärde gegen den Einfluss der westlichen Staatengemeinschaft auf die Ukraine und das Vorrücken der NATO verstanden. Es gab auch Stimmen, die mahnten, das von Russland formulierte Bedürfnis nach Anerkennung und Sicherheit ernst zu nehmen. Dennoch, Krieg als Mittel einer Konfliktlösung wollte sich niemand vorstellen.
Viele standen hinter der pazifistischen Forderung „Frieden schaffen ohne Waffen“ und „Sicherheit gibt es nur miteinander“. Die Weigerung, Waffen in Kriegsgebiete zu schicken, war angesagte Politik, mittlerweile ist das Bedenken, auch schwere Waffen zu liefern, als feiges Zögern angeprangert worden.
Der moralische Impuls auf die Brutalität des russischen Angriffs und auf die entsetzlichen Kriegsgräuel fordert, der Ukraine zu helfen, sie in ihrer Selbstverteidigung zu unterstützen und uns der vielen Geflüchteten anzunehmen. Aber es gilt ebenso, einen offenen Krieg zwischen Russland und der NATO zu vermeiden. Zu verhindern, sich Schritt für Schritt in den Krieg involvieren zu lassen. Die Logik der Gewalt tendiert immer zu Eskalation und Entgrenzung und übt einen Sog aus. Ein Dilemma, für das es keine Lösungsformel gibt.
Aktuell sind in den öffentlichen Medien und in der Politik die Stimmen stark, die auf Bewaffnung und Gegenwehr setzen, ja, die sogar betonen, wir dürften uns von der Drohung, es könne zu einem dritten Weltkrieg kommen, nicht einschüchtern lassen.
Sind aber Waffenlieferungen ein sicheres Mittel, den Krieg zu stoppen oder sogar zu gewinnen, wie manch einer meint? Was heißt überhaupt „gewinnen“? Und welche „Kosten“ hat es? Unter dem Strich hat Krieg noch immer Tod, Zerstörung und Verwüstung bei Besiegten und bei Siegern bedeutet.
Wird Putin, wenn er seine Ziele gefährdet sieht, wirklich einlenken oder wird er nicht doch zu Atomwaffen greifen, wie er es ja in den ersten Kriegstagen bereits angedroht hat? Geben wir ihm mit der Lieferung schwerer Waffen womöglich eine Begründung für weitere Schritte an die Hand?
Wir müssen uns aber auch der Frage stellen (von der viele gehofft hatten, dass sie uns niemals gestellt werden würde), ob wir in letzter Konsequenz auch bereit sind, Demokratie, Freiheit und Menschenrechte unter Einsatz unseres Lebens zu verteidigen.
Unser Mitgefühl darf nicht zu einer Überreaktion führen. Entscheiden nach reiflicher Überlegung (oder reiflichem Zögern) ist meist verantwortungsvoller, als eine (vor)schnelle Reaktion und erwägt alle Konsequenzen.
Neben der Hilfe zur Selbstverteidigung darf deshalb diplomatische Kreativität und eine weitsichtige Politik nicht vernachlässigt werden. Sicherheit kann nicht durch mehr Waffen allein gewonnen werden, es braucht auch Investitionen in den Frieden.
Wie aber redet man mit einem Kriegsverbrecher, dessen Motivation durch die Überzeugung, sich in einem „metaphysischen Kampf“ des Guten gegen das Böse aus dem Westen zu befinden, aufgeladen ist?
In der Diplomatie geht es darum, Kommunikationskanäle offen zu halten, es geht um Verstehen ohne das Verstandene zu billigen, weniger aus einer wertschätzenden Haltung heraus als vielmehr „in kalter Luft“ (Helmuth Plessner). Es geht um Verhandeln und Feilschen, vielleicht auch um List und Überredung, um das Finden einer Mitte, die nicht vorgegeben ist, sondern sich erst im Prozess herausstellen muss.
Hoffen wir also, dass genügend Anstrengungen unternommen werden, um der Diplomatie ausreichend Raum zu geben.
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