Humanismus ist universell zu denken
Ethische Reflexion beraterischer / therapeutischer Praxis verstehen wir im Allgemeinen als die Beschäftigung mit moralischen Dilemmata, mit Regel- oder Grenzverletzungen innerhalb der beruflichen Praxis. Eine weitere Dimension gewinnt sie in dem Moment, wo sie sich auch als Reflexion der institutionellen Rahmenbedingungen und des gesellschaftlich-sozialen Kontextes, in dem Beratung und Therapie stattfinden, versteht. Gefragt ist dann eine ethische Fundierung des eigenen moralischen Selbstverständnisses als Handelnde im gesellschaftlichen Kontext. Wie kann ich mein Handeln als ein verantwortbares „gutes“ Handeln begründen ohne dabei auf weltanschauliche oder religiöse Wertvorstellungen zurückzugreifen? Das kann nur durch Bezug auf allgemeine Grundnormen gelingen, welche die Würde aller Menschen als denkende, erlebende und handelnde Personen achten. Für personzentriert Arbeitende heißt das, sich am humanistischen Menschenbild und an den Grundsätzen zu orientieren, wie sie in Artikel 3 des Grundgesetzes und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegt sind.
Beratung und Therapie verstehen sich idealerweise als professionelle Assistenz für Klient:innen, eigene Problemlösungen zu entwickeln und eigene Handlungsspielräume zu erweitern. Doch in der alltäglichen Praxis, insbesondere innerhalb von Institutionen, geraten Kolleg:innen dabei immer wieder an Grenzen, zum Beispiel durch institutionelle oder organisationale Vorgaben, bürokratische Auflagen, Berufsroutine, ökonomische Zwänge oder politische Entwicklungen. Hinzu kommt, dass im Zuge globaler Krisen und Transformationsprozesse gesellschaftliche (Selbst-)Verständigung zunehmend infrage gestellt wird. So gerät die Überprüfbarkeit und Begründung wissenschaftlichen Wissens durch Verschwörungsmythen und „alternative Fakten“ unter Druck. Auch identitätspolitische Antidiskriminierungsdiskurse erschweren eine Verständigung über geteilte humanistische Werte jenseits von gender, race und class, von Religion, Ethnie und Nation.
Mir scheint in diesem Zusammenhang wichtig, die Idee universeller Menschenrechte radikal zu denken und nicht nur Menschenrechte, sondern auch Menschenpflichten in den Blick zu nehmen. Menschheit nicht in biologischen, sondern in moralischen Begriffen zu denken.
Nach Kant haben wir die innere Freiheit, uns zu entscheiden, für uns selbst und für die Gestaltung der Welt, in der auch die anderen Menschen leben, Verantwortung zu übernehmen. Menschen unter allen Umständen als Zweck an sich und nicht als Mittel zu betrachten, also Mit-Mensch zu sein, ist eine Aufgabe, die aktiv übernommen werden muss. Nach Marin Buber ist der Mitmensch die konkrete Andere, die in unserer Reichweite lebt und über die wir uns erst selbst erkennen. Diese konkrete Andere ist aber nicht nur diejenige, die aufgrund bestimmter Merkmale die gleiche Identität hat wie ich, sondern ist jede Andere. Die von Kant beschriebene Freiheit hängt nicht von empirischen Tatsachen, nicht vom Mehrheitskonsens, nicht von kulturellen Konventionen und nicht von der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ab, sondern von der abstrakten Idee, dass Menschen einen Wert haben, eine absolute Würde, weil sie grundsätzlich vernunftbegabt sind und fähig, moralische Pflichten zu übernehmen – unabhängig davon, ob sie es im konkreten Einzelfall können (z. B. Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung). Diesen Überlegungen folgend ist die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten keine naturgegebene Selbstverständlichkeit, sondern ein Aufgabe. Nach Helmuth Plessner ist der Mensch aufgrund seiner exzentrischen Positionsform ein Lebewesen, das Anforderungen an sich stellt, d. h. auch daran, ethische Überlegungen und Normativität zu entwickeln.
Die Idee der aus Freiheit entstehenden moralischen Pflicht ist auf einem hohen, übergeordneten Abstraktionsniveau angesiedelt, während die politischen und beruflichen Entscheidungen, vor die wir im Alltag gestellt sind, in konkrete Zusammenhänge eingebettet sind, die berücksichtigt werden müssen, damit Lösungen gefunden werden können. Diese Entscheidungen und Lösungen dürfen aber die übergeordnete Ebene nicht verletzen, sie müssen daran geprüft werden. Sich wechselseitig als gleichberechtigte Moralsubjekte (vernunftbegabt und selbstbestimmungsfähig) anzuerkennen, schließt unterschiedliche Identität nicht aus, sondern ist Ausgangspunkt und Voraussetzung für ein gelingendes soziales Miteinander, auch in jeweils speziellen gesellschaftlichen, sozialen und beruflichen Situationen.
*1) Dass Kant selbst in seinen frühen Schriften seinen eigenen Idealen nicht genügte, ist kein Argument, seine moralphilosophischen Überlegungen infrage zu stellen.
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