Die Zukunft der Psychotherapie
Vergangenes Jahr erschien ein bemerkenswertes Buch mit dem Titel „The Value of Psychotherapy. The Talking Cure in an Age of Clinical Science“ (Guilford Press, New York, 2015). Der Autor ist Robert L. Woolfolk, der sich als Professor in Princeton, Verhaltenstherapeut und Verhaltenstherapieforscher mit etlichen behavioral ausgerichteten Fachpublikationen einen Namen gemacht hat. Diese Ausrichtung gibt eine gewisse Hoffnung, dass Woolfolks Zahlen und Argumente auch in den deutschen Diskursen wahr- und ernstgenommen werden (zumal das Buch noch Ende 2016 in deutscher Übersetzung erscheinen wird[1]).
Woolfolk zeichnet kurz den enormen Aufstieg professioneller Psychotherapie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach – um dann sehr ausführlich und mit vielen Zahlen und Argumenten den längst begonnen Abstieg zugunsten einer umfassenden Medikalisierung zu belegen. Zwar konzentriert er seine Analyse ganz auf die Verhältnisse in den USA und macht keinerlei Aussagen über Deutschland. Aber auch das könnte eher ein Vorteil sein, da man ihm so nicht von vornherein Parteilichkeit unterstellen kann.
Zu den Daten, die den „Aufstieg“ belegen, gehören die über die Zunahme der Inanspruchnahme von Behandlungen aufgrund psychischer Störungen von 4 % (1940) über 14 % (1960), 26 % (1976) und 33 % (1990) bis zu fast 50 % der Bevölkerung aktuell. 1956 gab es 45 Universitäts-Programme zur Ausbildung in klinischer Psychologie, 2012 waren es bereits 375. 1975 gab es 72.000 Psychotherapeuten, 1985 bereits 159.000. Die Zahl der Psychiater ist von 4.500 (1945) auf 42.000 (2010) gestiegen. Alles, wie gesagt, auf die USA bezogen.
Aber – und dies markiert den „Abstieg“ laut Woolfolk – gleichzeitig ging in den letzten beiden Jahrzehnten der Anteil an Psychotherapie gegenüber dem Psychopharmaka-Markt rasant zurück: Während 1996/1997 noch 19,1 % der Psychiater ihren Patienten Psychotherapie erteilten oder verordneten, halbierte sich dieser Anteil fast auf 10,8 % in 2004/2005. Von 1996 bis Ende 2005 sank der Anteil an Praxisbesuchen im Zusammenhang mit einer Psychotherapie von 44,4 % auf 28,9 %. Und sofern Patienten ein Zentrum für „Managed Care“ aufsuchen, wird faktisch überhaupt keine Psychotherapie mehr vorgeschlagen. Dafür stieg der Anteil von Psychiatern, die nur noch Pharmaka und keine Psychotherapie mehr verschrieben, von 40 % (1998) auf 57 % (2007). Die Ausgaben für Psychopharmaka stiegen (inflationsbereinigt!) von 1,3 Mrd. $ (1987) über 14,4 Mrd. $ (2001) auf 25 Mrd. $ (2008) (die unterschiedlichen Jahreszahlen ergeben sich daraus, dass verlässliche Daten eben in unterschiedlichen Jahren erhoben wurden).
Als ein zentrales Moment in der Dynamik, die zu dieser Entwicklung führte, macht Woolfolk die große Zahl von Psychiatern in den USA aus, die zwar ehemals psychodynamisch orientiert waren, sich aber schwer der Versuchung widersetzen konnten, dem „Effizienz“-Argument der Pharma-Vertreter zu widerstehen: Statt sich eine Stunde mit einem Patienten abzumühen, kann man in dieser Zeit lieber vielen Patienten „mit dem Rezeptblock helfen“ – und so den „Durchsatz“ und das Einkommen vervielfachen. Darüber hinaus, so Woolfolk, war es mit der Aufgabe jeglicher theoriegeleiteter Betrachtung des DSM II zugunsten einer „richtungsneutralen“ aber theorielosen Symptomsammlung ab DSM III um die Wertschätzung einer klinischen Theorie geschehen. In diesem Zuge wirft Woolfolk auch einer Gruppe seiner eigenen Kollegen, den Verhaltenstherapeuten, vor, dass sie „merkwürdige Allianzen“ mit den biomedizinischen Psychiatern eingegangen seien: Sie akzeptierten die Nosologie der DSMs und die Methoden der pharmazeutischen Forschung, besonders die randomisierte kontrollierte Studie (RCT), um mit ihren „empirisch gestützten Behandlungen“ (ESTs – empirically supported treatments) gemeinsam mit den Biomedizinern die anderen Therapieansätze zu verdrängen. Psychotherapieforschung wurde weitgehend auf die Effizienz verabreichter Interventionen im Vergleich zu Medikamenten reduziert. Da war es dann nicht mehr weit, von dem Siegeszug der Psychopharmaka-Konzerne mit ihren rund 30 Mrd. $ Werbeaufwand (in den USA, jährlich für 2012 und die Folgejahre) überrollt zu werden.
All dies gilt so nur für die USA. Zahlen für Deutschland müsste man erheben. Vielleicht aber dient Woolfolks Analyse dazu, einmal über die „Allianzen“ hierzulande nachzudenken. Man könnte fragen, ob es klug ist, den Nutzen von Psychotherapie allein mit den Methoden der Pharmaforschung belegen zu wollen. So als hätte unsere Wissenschaft nicht ein weit größeres Spektrum an methodischen und inhaltlichen Konzepten zu bieten. Oder man könnte fragen, ob es klug ist, wenn Psychodynamiker Allianzen zur Etablierung einer monopolisierten Forschungsmethodik als „wissenschaftlich“ eingehen, die ihren inhaltlichen Theorien weitgehend diametral entgegengesetzt ist. Der oft zitierte Satz „Wir haben uns zu Tode gesiegt“ könnte auch für Psychotherapie-Funktionäre gelten, die immer noch ihre Wichtigkeit davon ableiten, wie sehr und wie lange sie der „Konkurrenz“ Schaden zufügen können – statt die Gemeinsamkeiten (oder zumindest: die gemeinsamen Interessen) ins Auge zu fassen.
Sorge bereite ihm, sagt der Wissenschaftler und Verhaltenstherapeut Woolfolk, der „Trend, die Psychotherapie in eine Psychotechnik zu verwandeln, sowie der damit einhergehende Blick auf den Menschen.“ Das bezieht sich, wie alle seine Aussagen, auf die USA.
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[1] Erscheint bei CIP-medien, München. Der deutsche Titel stand zu Redaktionsschluss noch nicht fest.
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