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Die hundertfünfzigste Kerze

Wenn ich die letzten Wochen innerlich Revue passieren lasse, so kommt mir im Hinblick darauf, was ich besonders bemerkenswert fand, immer wieder die 150. Kerze in den Sinn. Diese befand sich, irgendwo, ununterscheidbar, zwischen 149 weiteren Kerzen im Kölner Dom beim ökumenischen Gedenkgottesdienst, welcher anlässlich des Flugzeugabsturzes der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen stattfand. Jede Kerze stand dort für einen Menschen, der sein Leben bei dieser furchtbaren Katastrophe verloren hatte.

Bemerkens- und nachdenkenswert ist für mich die Tatsache, dass es trotz der ungeheuren Vielfalt an Medienberichten weder dort noch von den rund 1.400 Trauergästen Protest gegen diese 150. Kerze gab. Immerhin stand diese Kerze doch für einen Mörder, der mit Absicht – das war schon damals klar – als Co-Pilot der Maschine nicht nur sich, sondern auch die anderen 149 Passagiere und Crew-Mitglieder in den Tod geflogen hatte. Man kann daher mit Fug und Recht von einem Massenmörder sprechen, der den anderen 149 Menschen und deren Angehörigen unsagbares Leid zugefügt hatte. Je deutlicher in den Tagen zuvor wurde, dass der Absturz gezielt herbeigeführt worden war, desto mehr war in den öffentlichen Kommentaren hierzu neben der Trauer über die Opfer auch von Unverständnis, Wut und Hass gegenüber dem Mörder zu lesen und zu hören. Und man kann sich leicht vorstellen, dass es den Angehörigen der Opfer mindestens genauso ging. Entsprechend wurden noch im Vorfeld zur Trauerfeier von Angehörigen Vorbehalte gegen diese 150. Kerze geäußert: Eine Kerze auch für den Täter – nochmals: ein Massenmörder – zwischen all denen für seine Opfer? Kann so etwas, vorsichtig formuliert, angemessen sein?

Doch wie bei wirklich großen, stimmigen Gesten und Zeichen vermochte die mit der 150. Kerze vermittelte Botschaft des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki offenbar so wesentliche Aspekte unseres Daseins zu berühren, dass die kritische Diskussion zur Frage der Angemessenheit verstummte. Mit dem Tode sind alle Menschen, ob zuvor Opfer oder Täter, so gleich in ihren wesentlichen Aspekten, dem Mensch-Sein, wie sie es auch am Anfang waren, als sie als unschuldige, liebenswerte Babys zur Welt kamen. Die biografischen Gewordenheiten dazwischen eröffnen uns einen Blick in die Abgründe unserer Welt. Doch die Schuld des jungen Co-Piloten mag noch so unermesslich sein: Es steht uns nicht mehr zu, diese auszumessen und damit über die „Angemessenheit“ zu diskutieren. Auch wenn bei einem Überleben des Co-Piloten diesem ohne jede Frage der Prozess gemacht worden wäre, Fragen über dessen Schuldfähigkeit und deren Ausmaß debattiert worden wären und er sich seiner Verantwortung hätte stellen müssen: Mit dem Tode liegen all diese Fragen und möglichen Antworten nicht mehr in unserer Hand und im Rahmen unserer Gerichtsbarkeit – allerdings ebenso wenig jedwede Form von Entschuldigung für dieses Verbrechen. Vielmehr, so formulierte es Kardinal Woelki, müsse man das letztendliche Urteil über den Co-Piloten Gott überlassen. Und, wie Bundespräsident Gauck hervorhob, mit dem Co-Piloten ist nicht nur der Massenmörder, sondern – wesentlicher – auch ein Mensch gestorben. Jemand, der ebenfalls andere Menschen hinterlässt, die ihn geliebt haben und die nun um ihn trauern.

Und was ist mit dem Unverständnis, der Wut und dem Hass? Sie können – ja, sie müssen – sein; als evolutionär erworbene Reaktionen auf das unfassbare Chaos, auf die Frustration über zerstörte Lebensentwürfe, Verlust von Geliebten, erzwungene Verlassenheit. Doch das eine lässt sich eben nicht gegen das andere ausspielen.

Und auch die hilflosen Versuche, der Fassungs- und Sprachlosigkeit angesichts dieser Katastrophe dennoch irgendwie Fassung und Sprache zu geben, indem über die richtige Kategorie für die psychische Erkrankung des Co-Piloten spekuliert und diskutiert wurde – „Depression“, „erweiterter Suizid“ etc. –, sind bestenfalls Selbstberuhigungen: Keine Diagnose einer psychischen Krankheit erlaubt es (derzeit), irgendein Handeln und Erleben im Detail zu erklären oder gar vorherzusagen. Vielmehr sind Diagnosen selbst Erklärungsprinzipien, um bestimmte Symptome zusammenzufassen und gegenüber anderen abzugrenzen. In der Kategorie „Depression“ kommen allerdings die Symptome des Co-Piloten gar nicht vor: Denn „wer depressiv ist, will andern kein Leid antun“, wie zum Beispiel Martin Rufer im systemagazin[i] klarstellte. Wenn schon eine Kategorie, dann zumindest „Psychopathie“, um nicht die vielen depressiven Menschen unter Generalverdacht zu stellen.

Der erhobenen Forderung, dass sich Fluggesellschaften nicht nur primär um körperliche Fitness, sondern auch um psychische Erkrankungen besser, aufmerksamer und regelmäßiger kümmern sollten, ist zuzustimmen. Doch kann man diese berechtigte Forderung nicht gegen die Erkenntnis ausspielen, dass wir unsere zunehmend komplex technisierte Welt nicht absolut sicher machen können. Zumal die Wahrscheinlichkeit eines solchen Falles bei über 30 Millionen Flügen pro Jahr extrem weit unter allen Irrtumswahrscheinlichkeiten psychologischer Testdiagnostik liegt. Die Lösung, allein die Kontrollmechanismen zu perfektionieren, hat immer auch eine Schattenseite.

So müssen wir mit der Kernbotschaft (auch) humanistischer Psychologie leben: Die 150. Kerze stand für einen Menschen – egal was er getan hat. Und egal, was immer wir tun: Solche Katastrophen lassen sich trotz aller Kontrolle nicht verhindern.
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[i] Siehe die Debatte unter http://systemagazin.com/wer-depressiv-ist-will-andern-kein-leid-antun/