Die Fakten sind freundlich
Nach – Gedacht
Die Fakten sind freundlich
Kommentar von Jürgen Kriz
Vor genau 60 Jahren schrieb Carl Rogers in seinem Buch On becoming a person: „The facts are friendly“. Er zog damit ein Zwischenresümee einer rund zwanzigjährigen Psychotherapieforschung. Wobei besonders das umfangreiche Werk Psychotherapy and Personality Change (Rogers & Dymond, 1954) als Meilenstein empirischer Psychotherapieforschung gesehen werden kann. Rogers berichtet in diesem Zusammenhang, wie erleichtert er war, als die Ergebnisse seine Hypothesen bestätigten – denn im Sinne guter empirischer Forschung war dies vorab keineswegs klar. Aber es zeigte sich: „Die Fakten sind freundlich.“
Nun wird im Herbst 2021 die 7. Auflage von Garfield & Bergin’s Handbook of Psychotherapy and Behavior Change erscheinen. Dieses Werk gilt seit einem halben Jahrhundert quasi als „Bibel“ der Psychotherapieforschung: Jeweils im Abstand von acht bis zehn Jahren wird dort der internationale Stand dieser Forschung anhand von sehr aufwendigen Übersichten und Metastudien dokumentiert.
Für LeserInnen dieser Zeitschrift ist natürlich besonders das Kapitel „Research on Humanistic-Experiential Psychotherapies“ (von Robert Elliott, Jeanne Watson, Ladislav Timulak, and Jason Sharbanee) interessant. Ihre Analyse beruht auf 91 Studien zur effectiveness/efficacy zwischen 2009 und 2018. Und wieder – ja, sogar noch deutlicher als 2013 – erweisen sich die Fakten als freundlich für die Humanistic-Experiential Psychotherapies (HEP) (die sich weitgehend mit dem decken, was auch in Deutschland als Humanistische Psychotherapie in der AGHPT vertreten wird). So ist zunächst die recht hohe Effektstärke im Vergleich zu nicht behandelten Patienten von .88 hervorzuheben. Auch zu anderen Therapieformen erweist sich HEP als gleich effektiv (-.08). Bekanntlich wird ja von Seiten der kognitiven Verhaltenstherapie (CBT bzw. KVT) immer wieder deren Überlegenheit behauptet. Doch diese angebliche Überlegenheit der CBT gegenüber der HEP (.26) ist ganz überwiegend mit Studien erbracht, in denen von CBT-Forschern eine Pseudo-HEP, als erwünscht unwirksame Placebo-Bedingung, verwendet wurde. Auch in dieser Rubrik wurden mehrfach solche „fragwürdigen“ Studien kritisiert. Wird CBT mit korrekt durchgeführter HEP verglichen (und dieser Vergleich gar noch von neutralen Wissenschaftlern überwacht), so verschwindet die in CBT-Publikationen behauptete Überlegenheit.
Das alles ist im Kern nicht wirklich neu, sondern zeigte sich bereits in den Metastudien der 6. Auflage von 2013, denen 186 Studien mit insgesamt 14.206 Patienten zugrunde lagen (59 davon kontrollierte efficacy-Studien). Auch damals wurde bereits die weitgehende Gleichwertigkeit in der Effektivität zu den anderen drei Grundorientierungen gezeigt. Dies ist nun aber anhand der weiteren 91 Studien noch deutlicher belegt. Und auch die „Beweiskraft“ dieser Befunde in der scientific community ist durch zusätzliche Analysen weiter gesteigert worden (u. a. durch sog. „intent-to-treat (ITT)“-Analysen und expliziten Nachweis der Studienauswahl durch das sog. PRISMA-Diagramm).
Die Fakten sind aber auch in einem weit weniger methodisch-spitzfindigen Bereich freundlich: Jedes Jahr legt das österreichische Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz Daten „zum Ausbildungsgeschehen in Psychotherapie, Klinischer Psychologie und Gesundheitspsychologie in Österreich“ vor. Der letzte derzeit abgreifbare Report stammt vom Mai 2020 und fasst die Entwicklung bis 2019 zusammen. Mit Stand 1. Juni 2019 befinden sich insgesamt 4.339 Personen in einer fachspezifischen Psychotherapieausbildung. Dabei steht die Personzentrierte Psychotherapie mit 14 Prozent nur knapp an zweiter Stelle hinter der führenden Familientherapie mit 14,6 Prozent. Da in Österreich nicht grobschlächtige abstrakte „Grundorientierungen“ oder „Verfahren“, sondern differenziert konkrete Ausbildungen (und Institute) zugelassen werden, macht es Sinn, die im Report angegeben Cluster anzusehen: 45,7 Prozent wählten für ihr Fachspezifikum eine Ausbildung mit „Humanistisch-Existenzieller Orientierung“. Dies übertrifft weit die „Tiefenpsychologisch-Psychodynamische Orientierung“ mit 27,8 Prozent, die „systemische Orientierung“ mit 14,8 Prozent und letztlich die „Verhaltenstherapeutische Orientierung“ mit lediglich 11,7 Prozent. Gegenüber der Verteilung auf der Psychotherapeutenliste (mit 37,4 % für Humanistische Verfahren) haben sich bei den Ausbildungskandidaten sogar nochmals rund 7 Prozent mehr für diese Orientierung ausgesprochen.
Man darf wohl davon ausgehen, dass die vielen Therapeuten mit Humanistischer Orientierung auch von einer entsprechend hohen Zahl an Patienten aufgesucht werden. Zwar wählen Patienten auch danach, was angeboten wird. Gleichwohl kann man sehen, wie die Fakten der internationalen Forschung und die Nachfrage nach Behandlung für eine starke Humanistische Therapie sprechen, wenn man nicht, wie hierzulande, der Konkurrenz die administrative Macht gibt, sie zu behindern bzw. zu eliminieren.
Natürlich ist es verständlich, dass die fast 100 Prozent KVT-orientierten klinisch-therapeutischen Professuren in Deutschland oft vor dem „Modell Österreich“ warnen, wo die KVT einen Anteil von unter 12 Prozent hat. Wer aber nicht per se die österreichischen Wissenschaftler als weniger kompetent, die Gesundheitsadministration dort als verantwortungsloser, die Patienten als uninformierter und die TherapeutInnen als opportunistischer diskreditiert, müsste einmal darüber nachdenken, welche Gründe die deutsche Ausgrenzung hat. Und wie sehr dies den Patienten und der Psychotherapie insgesamt schadet. Die Fakten sind freundlich – in einer Zeit, die stark von Machtpolitik und ihren „alternativen Fakten“ bestimmt wird, bleibt allerdings nichts, als immer wieder darauf hinzuweisen.
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