Depression als Gehirnentzündung?
Als Psychotherapeut und Wissenschaftler sollte man sich über neuere Ergebnisse und aktuelle Diskurse der Neurowissenschaften informieren. Immerhin ist unser zentrales Nervensystem – und hier besonders das Großhirn – eine bedeutsame Basis für psychische Prozesse. Freilich nicht immer die wichtigste und schon gar nicht die einzige: Zunehmend erkennen wir, dass wichtige genetisch und biographisch erworbene Strukturierungsprinzipien, die unser alltägliches Handeln und die psychischen Prozesse bestimmen, auch jenseits des Gehirns im Körper repräsentiert sind – zum Beispiel im Hormonsystem oder auch in den muskulären Strukturen. Darüber hinaus findet das scheinbar „individuelle“ Geschehen im Hier und Jetzt ohnedies als adaptive Passung zu interpersonellen und größeren sozialen Mustern sowie zu kulturellen Prozessdynamiken statt. Das alles setzt aber unser Anfangsstatement nicht außer Kraft, sondern relativiert nur die übergroße Bedeutung, welche den neurowissenschaftlichen Aspekten oft zugemessen wird.
Als Quintessenz dieser Einsicht habe ich mich irgendwann für den Newsletter von „NeuroNation“ eingetragen und bekomme seitdem einige Male pro Monat per Mail Informationen (kostenfrei) zugeschickt. Im Wesentlichen geht es um Berichte aus Wissenschaft und Forschung im weiten Bereich der Gedächtnisleistungen und deren praktische Umsetzung in Form von Übungen und Trainings. Die Internet-Plattform (www.neuronation.de) wurde vom Bundesministerium für Gesundheit und der AOK ausgezeichnet; mit der FU-Berlin und der TU-Dortmund bestehen Kooperationen. Positiv ist auch zu vermerken, dass keineswegs nur dem neurobiologischen Reduktionismus das Wort geredet wird, sondern Kritisches zur Willensfreiheitsdebatte oder Warnungen vor der Überinterpretationen von Befunden des MRT zu finden sind.
Doch ist in diesen Zeiten wohl kein Publikationsorgan vor den Anfechtungen gefeit, die Welt zu einseitig durch die somatische Brille zu betrachten. So wurde im Spätsommer 2015 von Neuro-Nations ein Text mit dem Titel „Woran erkenne ich Depressionen?“ verschickt. Es ging darum, dass „neuste Forschungen zeigen“, dass Depression „möglicherweise auf eine Entzündung des Gehirns zurückzuführen“ sei – wobei als Maß für die „Entzündung des Gehirns“ der Anteil aktivierter Mikroglia im Gehirn dient. Mikroglia-Zellen sind Zellen im Zentralnervensystem, die auf Entzündungsprozesse reagieren und somit wesentlich für die Immunabwehr dort sind. Nun zeigte eine kanadische Studie an 20 depressiven und 20 nicht-depressiven Untersuchungsteilnehmern, dass die Depressiven im PET (Positronen Emissions Tomografen) höhere Entzündungswerte als die Gesunden aufwiesen. Außerdem stiegen die Entzündungswerte mit dem Schweregrad der Depression.
Da nun, wie der Artikel betont, „die Effektivität von heutigen Antidepressiva gering (ist)“, bestünde die Hoffnung, „dass aufbauend auf dieser Forschung“ zum entzündeten Gehirn „wirksamere Antidepressiva entwickelt werden können“. Denn „der Betrachtungsweise folgend könnte Depression eine außer Kontrolle geratene Abwehrreaktion des Gehirns sein“.
Das ist nun doch wohl eine recht abenteuerliche Betrachtungsweise von Depression – auch wenn sie sich in die unzähligen Versuche einreiht, psychische Krankheiten ganz oder vorwiegend auf somatische Ursachen zurückzuführen. Das Problematische daran ist, dass natürlich der somatische Aspekt auch in einem hoch komplexen, multikausal-vernetzen Prozess durchaus seine Berechtigung hat: Das Psychische wabert ja nicht einfach durchs Universum, sondern es gibt stets auch Korrelate zu somatischen Teilprozessen. Somit könnte das, was wir mit „Depression“ bezeichnen, durchaus auch mit Veränderungen der Mikroglia einhergehen: Dass es zwischen Prozessen des Immunsystems, dem erlebten Stress und psychischen Erkrankungen Zusammenhänge gibt, ist keineswegs neu, sondern wird seit Jahrzehnten diskutiert und erforscht. Aber schon bei so vergleichsweise einfachen Phänomenen wie Grippe oder Fußpilz ist die Frage wenig sinnvoll, ob diese aufgrund eines geschwächten Immunsystems entstehen oder ob der Zusammenhang eher umgekehrt zu sehen ist: Beides steht in einer komplex-dynamischen Wechselwirkung, an der vor allem noch sehr viel mehr Aspekte – zum Beispiel Einflüsse der Umwelt – beteiligt sind.
Selbst aus rein somatischer Sicht lässt sich einwenden, dass vermehrt aktivierte Mikrogliazellen – also eine Entzündung im Gehirn – ebenso bei schizophrenen Patienten wie auch bei multipler Sklerose und weiteren Krankheiten beobachtet wird. Wieso daher die Befunde nun Differenzielles zum Verständnis von Depression beitragen oder gar neue Medikamente ermöglichen sollen, bleibt unerklärt. Zum anderen vertreten andere Somatiker – zum Beispiel Florian Holsboer, langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts in München – aufgrund ihrer Forschungen die Sicht, dass es mindestens zehn unterschiedliche Formen und damit somatische „Ursachen“ für „Depression“ gebe. Wen also meinen wir, wenn wir von „dem Depressiven“ sprechen (und z. B. für RCTDesigns Gruppen bilden)?
Psychologen und Therapeuten wissen zudem, dass schon ein Aspekt wie „Stress“ keineswegs ein rein somatisches oder physisches Phänomen ist. Vielmehr ist vor allem das individuelle Erleben bedeutsam – und das in der Gesamtdynamik von genetischen und biographischen Aspekten, aktuellen Umweltbedingungen und vielen, vielen weiteren Einflüssen mehr. Solche selbst für einen Laien leicht einsehbare komplexen Wirkgefüge außer Acht zu lassen, mag zwar dem Zeitgeist nach simplen Erklärungen dienen, dient aber nicht dem Verständnis von dem, was wir „Depression“ nennen.
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