Das Leiden der Mädchen, der Töchter, der Frauen ist auch das Leiden der Welt
Vor einigen Tagen hörte ich im Radio die Nachricht, dass während der Demonstrationen gegen Mursi über hundert Frauen auf dem Tahir-Platz vergewaltigt oder sexuell massiv belästigt wurden. Während der Wortmeldung, die nur ein paar Minuten dauerte, rollte eine Welle der Wut in mir hoch. Online fand ich nähere Informationen, las unter dem Stichwort „Ägypten“ (ZEIT-online, 05.07.2013, 11:49) dass dort „ […] am Rande der Kundgebungen von Mursi-Gegnern mindestens 91 Frauen vergewaltigt oder sexuell belästigt“ wurden.
Ich spürte spontane wie solidarische Hass- und Rachegefühle. Seit der weltweiten Berichterstattung vor einigen Monaten über eine junge Studentin in Indien, die von einer Truppe Männer zu Tode vergewaltigt wurde oder den Ereignissen in Pakistan, wo die damals 14jährigen Bloggerin Malala „von den Taliban in den Kopf geschossen“ wurde , weil sie das Recht auf Bildung forderte, ist das Thema präsenter, als je zuvor. Ein Thema, das so alt ist, wie die Geschichte der Menschheit: die Unterdrückung der Frauen, die Macht des „Patriarchats“. Wie kann es immer noch so sein, dass die Hälfte der Menschheit Frauen sind und in den meisten Teilen der Welt noch immer unterdrückt werden?
Was mich einzelnes kleines (weibliches) Menschlein betrifft überrascht mich, wie schnell ich bei diesem Thema „anzutriggern“ bin und Wut- und Hassgefühle hochkommen gegen „diese Männer“. Trotz der Tatsache, dass ich in einem der Länder lebe, in dem die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern am weitesten fortgeschritten ist. Dennoch bin ich eine von 3,5 Milliarden Frauen auf der Welt – von rund 7,1 Milliarden Menschen insgesamt – die allein durch ihre Geschlechterzugehörigkeit zu den „Betroffenen“ gehört, denn das Problem geht alle Frauen an und natürlich auch „alle“ Männer. Doch was ist es nun, dass mich persönlich so wahnsinnig wütend macht?
Zum einen spielt sicher mit, dass ich inzwischen Töchter habe, die gerade am Beginn ihres Erwachsenenlebens die Welt bereisen wollen – und dass ich Angst um sie spüre, wenn ich nur einen Moment meiner Fantasie Platz lasse, was ihnen alles allein aufgrund ihres „Frau-Seins“ passieren könnte. Und losgelöst davon ist eben auch in unseren Breiten das Thema Frauendiskriminierung oder Gewalt gegen Frauen mit allem, was dazu gehört, noch lange nicht erledigt. Doch zurück zu mir, zu meiner Erfahrung und meinem Selbstkonzept. Ich habe keine (eigenen) Erfahrungen mit Männergewalt gemacht, die sich auf mich bezog, dachte ich beim ersten Nach-Denken.
Doch da kamen auch schon die Erinnerungen hoch. Zuerst erinnert sich mein Körper an bestimmte „Schamgefühle“, bevor mein Verstand die „Bilder“ hinzufügt: Ich weiße es noch genau, ich habe in der Hochphase der Pubertät eine zunehmende Angst vor „Männergruppen“ entwickelt, an denen ich„ vorbei“ gehen „musste“. Ich konnte schon aus der Distanz die abtastenden Blicke spüren. Blicke, die mich ärgerten, mich wütend machten. Ich wurde taxiert und abgeschätzt wie eine Ware. Den Blicken folgten sexistische Kommentare, Sätze ohne Distanz, ohne Wertschätzung, ohne Respekt. Zu Ärger und Wut kamen Scham und Schuldgefühle hinzu. Was war an mir „falsch“, dass diese Männern es sich erlauben konnten, mich so anzusehen und zu bewerten? Nur, weil ich eine Frau war?
Zuerst kam Abwehr. Ich lenkte meine Wut in Richtung Karateunterricht und motivierte mich mit „Bruce Lee“-Filmen zum Kompensationstraining, dass mir eigentlich viel zu hart und brutal war. Nach drei Monaten „Kampftraining“ gab ich auf. Ich ging viel lieber zum klassischen Ballettunterricht – ich „Weichei“. Nun hieß mein nächster Lösungsversuch „Vermeidung“. Ich wechselte die Straßenseite oder ging einen anderen Weg. Mein Verstand betrieb „Gegenentwertung“, sah (diese) Männer als „primitive Idioten“, die weder ihren Trieb unter Kontrolle hatten, noch vermutlich irgendeinen Schulabschluss besaßen (mein Selbstkonzept, eine wertzuschätzende Person zu sein, „verzerrte“ die Erfahrung, nicht wertgeschätzt zu werden, durch die Umdeutung, dass diese Männer „Dummköpfe“ wären, vgl. Rogers 1959/1987, S. 31).
Das war aber nicht „die Lösung“, also verstärkte sich meine Inkongruenz. Wut und Ärger nahmen zu. Nun lenkte ich meine Gefühle in die nächste falsche Richtung – wozu sich in der Pubertätsphase ganz prima die eigene Mutter anbietet. Sie war sowieso „Schuld“ an allem, vor allem daran, dass mir keine bessere Lösung einfiel, als weiterhin zu versuchen, die Männer samt meinem Ärger zu ignorieren. Bis der Tag kam, an dem mir der Kragen platzte – auch über meine eigene erfolglose Vermeidungsstrategie – und ich ohne nachzudenken auf eine solche Männergruppe zustürmte, als das erst „Pfeifen“ ertönte. Ich stellte „Auge in Auge“ die Frage, warum sie mich so anstarrten und solche Bemerkungen machten? Die Angst davor ausgelacht zu werden, machte sich im gleichen Augenblick als Magen-Darm-Grollen bemerkbar. Doch die Männer waren so „platt“, dass sie kein Wort herausbrachten - das hatte ich bestimmt nicht erwartet. Aber es half mir augenblicklich, die Situation anders zu betrachten.
„Das Individuum besitzt die Fähigkeit mit Gewahrsein die Faktoren seiner psychischen Fehlanpassung wahrzunehmen, nämlich die Inkongruenz zwischen seinem Selbstkonzept und der Ganzheit seiner Erfahrungen“ (Rogers 1959/1987, S. 47).
Ich konnte das Verhalten der Männer nun bewerten als ihr Verhalten, dass nicht mir persönlich galt, sondern ein grundsätzliches Geschlechterproblem ausdrückte. Das Magen-Darm-Grollen hörte auf und in mir breitete sich ein regelrechter „Felt-shift“, eine körperlich gefühlte Erleichterung aus, die immerhin gefühlte zwanzig Schritte anhielt. Bis mir einer der jüngeren Typen mit dünnem Stimmchen hinterhergrölte: „Kein Arsch und kein Tittchen, sieht aus wie Schneewittchen“. Aber, „das tat gar nicht mehr weh, Herr Doktor“ - mir taten zum ersten Mal die Männer leid, die dem „Gruppenzwang“ folgen mussten, Frauen abzuwerten, um sich selbst „gut“ zu fühlen.
Kürzlich bin ich auf ein Zitat gestoßen, dass einerseits zu diesem Thema passt: „Die Selbstverständlichkeit der Alltagskommunikation müssen genügend irritiert werden, damit sie überhaupt zum Inhalt der Kommunikation werden können.“ (König/Schattenhofer 2011, S.78) Es sei eine grundlegende Idee von Kurt Lewin, so die Autoren, dass man „Erwachsene“ zum Stolpern bringen muss, will man ihnen einen „Lernraum“ eröffnen. Andererseits wage ich zu bezweifeln, dass die Männer seinerzeit etwas „gelernt“ und ihr Verhalten daraufhin geändert haben. Denn es ging um etwas anderes, sehr viel größeres – um das es auch heute noch geht. Es geht um die grundsätzliche „Abwertung“ von Frauen, immer noch und überall auf der Welt, gestern wie heute, wenn auch in unseren Breiten sehr viel weniger. Es betrifft damit wie gesagt alle Frauen und Männer dieser Welt, weil es ein globales politisches Problem ist und damit auch ein globales Machtproblem.
Und wenn ich Geschichten höre oder lese, wie über diese Männergruppen vom Tahir-Platz, die auf so furchtbare Weise (und besonders perfide – gerade hinter der Maske der Solidarität mit den Demonstrierenden) gegen Frauen vorgehen, sie einkreisen, von ihren Leuten absondern, um sie dann zu misshandeln, kann ich zwar nichts (direktes) tun – und will es auch sicher nicht mit dem vergleichen, was ich erlebt habe – aber es ist dieselbe Geisteshaltung, um die es geht, eine Geisteshaltung der Unterdrückung, der Diskriminierung, der Intoleranz und schließlich der sinnlosen Zerstörung . Wo ist die Lösung für diese Ungeheuerlichkeit? Was kann ich einzelner Mensch tun?
Vorerst kann ich zumindest darüber schreiben – und so (auch) verbreiten, was es dazu an „guten Nachrichten“ zum Thema gibt – um der anderen Seite Gewicht zu geben, einer „aktuellen Tendenz“. Im SPIEGEL (print, Nr. 28) vom 08.07.2013 findet sich auf Seite 48 ein Artikel über „Malalas Schwestern“, der von der Veränderung erzählt, nachdem im „vergangenen Herbst eine 15-jährige Bloggerin in Pakistan niedergeschossen“ wurde, „weil sie das Recht auf Bildung forderte“. Nun, so heißt es dort, „kämpfen Mädchen weltweit gegen Gewalt und Unterdrückung“ und das sei das „Porträt einer jungen, globalen Bewegung. “ Ein Fazit des Artikel ist, dass Indien sich in den letzten Monaten „radikal verändert“ habe - seitdem Tod der jungen indischen Studentin durch jene grausame Vergewaltigung und seit der globalen Empörung der Weltgemeinschaft, Frauen wie Männern. „In Delhi überrannten Frauen die Behörden mit Anträgen auf einen Waffenschein.“ Auch eine alte Weisheit, Gewalt erzeugt Gegengewalt.
Doch es geht auch anders. Mit den Männern. „Es gibt Männer als Helfer, die auf dem Tahir-Platz versuchen, Frauen vor dem Mob in Sicherheit zu bringen. Es gibt Männer in Indien, die ihre Wut über Verbrechen gegen Mädchen, gegen Frauen auf die Straße tragen. Und es gibt Männer, wie Malalas Vater, die ihre Tochter, ihre Schwester, ihre Frau als wertvollen Menschen ansehen“ (ebd., S. 53). Und es gibt Männer, wie die vom Projekt „Heroes“ oder „Helden“, das 2007 in Berlin gegründet wurde (Kölner Stadt-Anzeiger v. 6./7. Juli 2013, S.40). Die Heroes sind junge muslimische Männer, die mit dem Begriff der sogenannten Ehrenkultur aufgewachsen sind. Sie haben sich in Berlin dem Heroes-Projekt angeschlossen und gehen in die Schulen, um über diesen Ehrbegriff, um über falsch verstandene Werte mit Schülern zu diskutieren, die unter „Ehre“ verstehen, dass eine Frau „Jungfrau“ bleiben muss und „der Mann muss gar nichts“. Es ist also noch lange nicht vorbei. Doch wie gesagt, es ändert sich etwas. Malala hat überlebt – und hat an ihrem 16ten Geburtstag am 12.07.2013 vor der UNO in New York über das Recht auf Bildung sprechen dürfen (Kölner Stadt-Anzeiger, 19.07.2013, S.07). Geändert hat sich auch, dass solche Nachrichten dank des Internets viel schneller verbreitet und (global) wahrgenommen werden.
Mir ist bewusst, das insbesondere der letzte Absatz dieses Blogs jener inneren „Nicht-alles-ist-schlecht“- Stimme in mir geschuldet ist, die nicht hinnehmen will, das die globalen Veränderungen in der Geschlechterfrage ein verdammt zäher Prozess sind. Doch Rückschläge sind auch hierzulande (noch) an der Tagesordnung, trotz der Tatsache, dass immer mehr Frauen immer besser ausgebildet sind: ganz abgesehen von Kristina Schröders Betreuungsgeld sind Sendungen wie „Germanys Next Top Modell“ möglich. Heidi Klum & Co. finden ein vor allem weibliches, junges Publikum. Es guckt (bei vermutlich ausgeschaltetem Verstand) zu, wie der Objektstatus der Frau vom denkbefreiten Kleiderständer zum Sexbienchen im Hohl-kreuzigen-Vierfüsslerstand medial perfekt durchinszeniert wird. Und auch frauen- wie menschenverachtende Rapper wie Bushido & Co. verstehen die mediale Inszenierung – und finden ihr Publikum. Wie kann das sein? Diese Frage seriös zu beantworten, ist Sache der zuständigen Wissenschaften. Aus (m)einer personzentrierten Perpektive ist das folgende Zitat von Rogers zumindest als (eine) Erklärung lesbar:
„Ich bin allmählich dazu gelangt, diese Dissoziation oder Spaltung, diese Entfremdung, als etwas Gelerntes zu verstehen, als eine perverse Kanalisierung eines Teils der Aktualisierungstendenz in Verhaltensweisen, die nicht aktualisierend wirken. [… ] Heute glaube ich, daß der einzelne von der Gesellschaft durch Belohnung und Verstärkung zu Verhaltensweisen konditioniert wird, die de facto eine Perversion der natürlichen Richtung der Selbstverwirklichungstendenz darstellen“ (Rogers 1977/1992, 276).
Quellen:
KÖNIG, Oliver, SCHATTENHOFER, Karl (2006/2011): Einführung in die Gruppendynamik. Heidelberg: Carl-Auer Verlag.
ROGERS, Carl R. (1959/1987): Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des klientenzentrierten Ansatzes. Köln: GwG-Verlag.
ROGERS, Carl. R (1977/1992): Die Kraft des Guten. Ein Appell zur Selbstverwirklichung. 14.-15. Tausend: März 1992. Frankfurt am Main: Fischer.
GwG-Bloggerin Christa Kosmala:
Im Zweifel Rogers
Ich lebe in Köln und arbeite freiberuflich als psycho-soziale Beraterin, Kommunikationstrainerin und Autorin. In meinem ersten Leben war "Suchen" das Thema, im zweiten Leben ging es schon mehr in Richtung "Finden". Also habe ich Artikel veröffentlicht, Geisteswissenschaften studiert (Philosophie und Literaturwissenschaft als Lieblingsfächer), Drehbücher, Reden und Vorträge (für andere) geschrieben. Und jetzt, im dritten Leben, herrscht ein stetiger Wandel zwischen "Suchen, Finden und Ankommen". Mein Schwerpunkthema ist (menschliche) Kommunikation. Nachdem ich vor einigen Jahren die Bücher von Rogers kennengelernt habe und so den "Personzentrieren Ansatz", habe ich den nebenberuflichen Masterstudiengang zum "Personzentrierten Berater" angehängt. Jetzt bin ich im letzten Semester. Und meistens liebe ich, was ich tue.
Website: www.meinekarriere-meinweg.de
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