Bedrohte Demokratie
Anfang Oktober haben Hessen und Bayern einen neuen Landtag gewählt und, wie schon die Umfragewerte befürchten ließen, hat die AfD deutlich an Stärke gewonnen. Ein beunruhigendes Ergebnis, das die Frage aufwirft, welche Faktoren dazu beigetragen haben. Es wäre jedoch voreilig, lediglich eine Protestwahl zu vermuten. Dass es viele Wähler also gar nicht so ernst genommen haben, dass sie ihr Kreuz bei einer Partei mit nachweisbaren rechtsextremen Überzeugungen gemacht haben. Untersuchungen von Wilhelm Heitmeyer, der sich seit Jahren mit Konflikt- und Gewaltforschung befasst, lassen darauf schließen, dass bereits vor Gründung der AfD Teile der Bevölkerung eine Verachtung für Schwächere hegten, die auf einer Ideologie der Ungleichwertigkeit basierten. Diese Einstellungen waren als stabiles Muster nachweisbar.
Durch die Verwerfungen, die der ökonomische Neoliberalismus und die Globalisierung mit sich gebracht haben, durch das spürbare Auseinandergehen der Schere zwischen Arm und Reich entstand zudem bei vielen Menschen ein Gefühl des Kontrollverlustes und der Marginalisierung. Ihr schwindendes Vertrauen in demokratische Institutionen äußerte sich häufig im Nicht-Wählen. Gleichzeitig bot dies jedoch auch einen Nährboden für den Wunsch, die eigene Gruppe aufzuwerten. Wenn es anstrengend wird, wenn es zu komplex wird, tendieren viele Menschen dazu, sich in überschaubare homogene Gruppen zurückzuziehen. Diese dann aufzuwerten und gegenüber dem Fremden als überlegen darzustellen, ist nur ein nächster Schritt. Hier konnte die AfD ansetzen, indem sie die Volkszugehörigkeit als identitären Bezugspunkt nutzte, liberales Denken ablehnte, die Angst vor kultureller Überfremdung schürte und die Sehnsucht nach Homogenität bediente.
In der Psychologie bezeichnet man dieses Phänomen als Reaktanz, die Motivation, auf gefühlte Einengung der eigenen Freiheitsspielräume mit einem trotzigen „Jetzt erst recht“ zu reagieren (wie es zum Beispiel im Fall Aiwanger zu beobachten war). Das als Mainstream wahrgenommene Meinungspendel soll zurückschwingen.
Jedoch reicht es nicht aus, wenn die demokratischen Kräfte reflexartig nur von „Brandmauer“ und „Abgrenzung“ sprechen, anstatt die bestehenden Ängste, Bedürfnisse und kulturell-familiär tradierten Denkmuster ernst zu nehmen. Es ist wichtig, inhaltlich begründet zu widersprechen. Nicht nur zu sagen: „Mit denen wollen wir nichts zu tun haben“, sondern den Diskurs um Inhalte aufzunehmen. Wenn Menschen es als ungerecht empfinden, dass eine Zusammenarbeit oder Koalition mit der AfD ausgeschlossen wird, obwohl diese Partei demokratisch gewählt wurde und zweit- oder drittstärkste Kraft ist, ist es wichtig zu begründen, warum diese Zusammenarbeit abzulehnen ist. Weil die AfD in ihrem Programm Positionen vertritt, die unserem Grundgesetz widersprechen. Weil sich zum Beispiel hinter dem Wort „Ethnopluralismus“ die Infragestellung universaler Menschenrechte verbirgt (was unter anderem dazu führt, dass die Beschneidung von Mädchen als kulturelle Eigenheit akzeptiert wird). Weil der Begriff „multipolare Weltordnung“ ein Kampfbegriff ist, der auch von Wladimir Putin vertreten wird und auf einen „eurasischen Kulturkreis“ abzielt, ein von Russland dominiertes Europa als Bollwerk gegen den angeblichen „Werteverfall“ des Westens.
Es ist ferner wichtig, mögliche Spielräume bei individuellen Positionierungen zu erkennen und zu nutzen, anstatt die Polarisierung in ein Entweder-Oder weiter voranzutreiben. Menschen können zum Beispiel gleiche Rechte für LGBTQI-Personen befürworten und dennoch das Gendern ablehnen. Wenn sachliche Differenzen emotional aufgeladen werden, erscheinen sie überbrückbar und führen zu erbitterten Meinungskämpfen.
Um dem rechten Gedankengut in unserem Umfeld und in den sozialen Medien entgegenwirken zu können, ist es wichtig, Falschnachrichten aufzudecken und die politische Bildung zu stärken. Gleichzeitig müssen wir in alltäglichen Begegnungen am Arbeitsplatz, im Verein und im Bekanntenkreis Äußerungen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entgegenwirken. Wir müssen aber auch die Sorgen vieler Menschen um wirtschaftliche und soziale Nachteile ernstnehmen, um gemeinsam nach Lösungen suchen zu können. Entscheidungen über notwendige Transformationen dürfen nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg getroffen werden. Denn dies fördert Reaktanz anstelle von Kompromissbereitschaft.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es von entscheidender Bedeutung ist, die Bedrohung für unsere Demokratie ernst zu nehmen und aktiv dagegen anzugehen. Wir müssen einen Diskurs um Inhalte führen, Ängste und Bedürfnisse ernst nehmen und Grenzen klar begründet setzen. Nur so können wir eine lebendige und vielfältige Demokratie bewahren und weiterentwickeln.
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