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Privatheit und Allgemeinheit

„What is most personal is most universal“ – so leuchtet es mir als Zitat auf der Instagram-Präsenz der GwG entgegen und hat mich zum Nachdenken gebracht. Wer heute in der Öffentlichkeit andere beeindrucken und berühren möchte, muss eine unverwechselbare Individualität an den Tag legen – die aber das genaue Gegenteil dessen ist, was Rogers mit seinem Satz einst meinte...

„What is most personal is most universal“ – so leuchtet es mir als Zitat auf der Instagram-Präsenz der GwG entgegen und hat mich zum Nachdenken gebracht.

Carl Rogers schrieb diesen Satz im ersten Kapitel von „Entwicklung der Persönlichkeit“ im Zusammenhang damit, dass er für zwei Aufsätze, in denen er sehr persönliche Gedanken und Gefühle geäußert und eigentlich vermutet hatte, sie seien deshalb unverständlich, große Resonanz erfahren hat. Er schreibt weiter „Das hat mich zu der Überzeugung geführt, daß, was am persönlichsten und einzigartigsten in jedem von uns ist, wahrscheinlich gerade das Element ist, das in seiner Mitteilung andere am tiefsten ansprechen wird“ (C. R. Rogers, 1961/1976, S.41 f). Künstler und Dichter seien als Menschen zu verstehen, die solches gewagt hätten. Er beschreibt hier eine Erfahrung, die ihn tief beeindruckt hat und die ihn in seinen Annahmen über zwischenmenschliche Kommunikation und eine hilfreiche Beziehung bestärkt haben.


In diesem Kontext ist der Satz für mich klar und nachvollziehbar. Als aus seinem Kontext gelöstes Zitat, als Merksatz, erfährt diese Feststellung aber eine normative Aufladung, einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, als gelte dieser Satz immer und in jeder Situation. Genau an diesem Punkt frage ich mich, ob das so stimmig ist oder in welchen Zusammenhängen es stimmig ist.

Rogers schrieb „Entwicklung der Persönlichkeit“ in den 1960er Jahren und damals und auch noch in den Folgejahren hätte ich den Satz vorbehaltlos unterschrieben. Jenseits von Kunst und Literatur Gefühle mit anderen zu teilen, sein Inneres in der Öffentlichkeit zu zeigen war ein Element der Gegenkultur, womit man über eine Bewusstseinsveränderung auch eine Veränderung der Gesellschaft anstrebte. „Seid authentisch, zeigt euch“ kam damals einer Revolution gleich.


Heute, in den 2020er Jahren, hat der Satz seine Gültigkeit ganz sicher weiterhin im Bereich von Beratung und Psychotherapie, in Selbsthilfegruppen und in psychosozialen Ausbildungskontexten.
Auch hier gilt es, zu bedenken, was Ruth Cohn (1975) sagte: „Sei authentisch und selektiv in deinen Kommunikationen. Mache dir bewusst, was du denkst und fühlst, und wähle, was du sagst und tust.“ 

Im öffentlichen Raum jedoch scheinen mir weitere Bedenken angebracht. Wir leben in einer Zeit, in der die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auf eine Weise verschoben ist, welche das konstruktive Element von Rogers‘ Aussage in sein Gegenteil zu verkehren droht.
Über Social-Media-Kanäle kann jede und jeder mitreden und persönlichste Informationen und Fotos preisgeben, in Talkrunden und Reality-Sendungen wird tief in die Intimsphäre von Menschen eingedrungen um vorgeblicher „Echtheit“ willen.
Ex-Präsident Trump beispielsweise hat sich sozusagen als Prototyp (derartiger) Authentizität in Szene gesetzt, er zeigt sich als der Mann, der ganz er selbst ist und dazu noch die Gefühle derjenigen ausdrückt, die sich durch Frauen, Schwarze und Immigranten ihrer Rechte beraubt glauben.

Wer heute in der Öffentlichkeit andere beeindrucken und berühren möchte, muss eine unverwechselbare Individualität an den Tag legen – die aber das genaue Gegenteil dessen ist, was Rogers mit seinem Satz einst meinte – sie ist Mittel zum Zweck der Aufmerksamkeitslenkung, um höhere Verkaufszahlen oder Macht zu erlangen – nicht aber dazu, sich besser zu verständigen.


Förderliche Authentizität im öffentlichen Raum ist selektive Authentizität innerhalb der Rollen, die wir einnehmen. Begegnen wir uns immer völlig als Privatpersonen, machen wir uns übermäßig verwundbar. Für den öffentlichen Diskurs und die Gestaltung unseres Gemeinwesens brauchen wir Räume, in denen wir Fremdem begegnen, uns austauschen und sachlich auseinandersetzen können.
Nähe und Intimität sollten unseren persönlichen Beziehungen vorbehalten bleiben.


Privatheit und Öffentlichkeit haben unterschiedliche Gefühlskulturen. Personen brauchen beide Sphären, die des Vertrauten, der Fürsorge und der Liebe und die des distanzierten Respekts voreinander. Verwischt man die Grenze, verliert das Persönlichste seinen Rückzugsraum und seinen Schutz. Und werden Erwartungen von persönlicher Nähe auf die öffentliche Sphäre übertragen, wo sie nicht eingelöst werden können, drohen sie umzuschlagen in Angst und Feindschaft.