Moralisch verantwortlich urteilen – eine Gratwanderung
Moralisch verantwortlich urteilen – eine Gratwanderung
ein Beitrag von Gabriele Isele
Um drängende Probleme zu bewältigen, reicht es nicht, sie wertfrei zu betrachten. Wir sind auch gefordert, uns zu ihnen zu positionieren und zu handeln. Moralisch verantwortlich zu entscheiden ist kein leichtes Unterfangen: Wir müssen uns auf differenzierte Klärungsprozesse einlassen, wir müssen einerseits ein vorschnelles Moralisieren vermeiden (auch wenn es uns bisweilen intuitiv dazu drängt), und wir dürfen andererseits nicht in einen ethischen Relativismus verfallen, der alle Wertvorstellungen als gleichermaßen gültig ansieht. Zwar sind Wertvorstellungen immer eingebunden in kulturelle, historische, und materielle Lebensbedingungen und unterliegen individuellen Präferenzen, aber gerade deshalb ist moralische Urteilskraft erforderlich, diese Bedingtheiten zu reflektieren. Erst dadurch entsteht ein Freiraum, um die für eine bestimmte Situation relevanten moralischen Gesichtspunkte heranziehen zu können. Dieser Freiraum entsteht in einem fortlaufenden Aneignungsprozess durch Interaktion mit der Umwelt. Zunehmendes Gewahrsein und wachsende Selbstreflexivität bedeuten immer ein Mehr an Erfahrung, Wissen und Komplexität – aber damit einhergehend auch ein Mehr an Fähigkeit zu bewusster Entscheidung. Wahl und verantwortliche Entscheidung werden nicht nur möglich, sondern auch unvermeidlich.
Ich möchte diese Gedanken an dem aktuellen Beispiel des Umgangs mit Denkmälern näher beleuchten: Im Zuge der Demonstrationen gegen Rassismus und Kolonialismus werden derzeit weltweit Statuen von den Sockeln geholt. Nun ist es keine Frage, dass wir unsere Erinnerungskultur in Bezug auf Rassismus und Kolonialismus überprüfen müssen. Es gilt kritisch zu hinterfragen, wer genau mit einem Denkmal geehrt wird. Geht es um einen Sklavenhändler und mitleidlosen Ausbeuter wie Edward Colston in Bristol, um jemanden wie den belgischen König Leopold II, der sich den Kongo als Privatbesitz angeeignet hatte und mit unvorstellbarer Grausamkeit ausplünderte? Oder geht es um den amerikanischen Präsidenten (und Friedensnobelpreisträger) Woodrow Wilson, der innenpolitisch für strikte Rassentrennung eintrat und außenpolitisch für einen liberalen Internationalismus und die Gründung des Völkerbundes? Um den britischen Premierminister Winston Churchill, der den Kolonialismus befürwortete, aber auch das nationalsozialistische Deutschland besiegte? Oder geht es um einen Philosophen wie Immanuel Kant, in dessen Vorlesungen zur „Physischen Geographie“ sich rassistische Passagen finden?
Bei historischen Personen gilt es zum einen, ihr Denken und Handeln im Kontext ihrer Zeit und der damals herrschenden Normen und Werte zu betrachten und zu untersuchen, inwieweit sie hätten anders entscheiden und handeln können. Ferner wäre zu berücksichtigen, dass sie (wie alle Menschen) voller Ambivalenzen steckten. Folgten wir einem moralischen Anspruch unbedingter Reinheit, wird kaum eine historische Person die Prüfung bestehen. Moralischer Rigorismus läuft jedoch seinerseits schnell Gefahr, in einen Tugendterror zu münden (Beispiel: Robespierre). Aber auch ein gleichmütiges, bewertungsfreies Tolerieren wäre der falsche Weg, würde es doch Unrecht relativieren und Orientierung verhindern.
Wir müssen uns fragen, worum es bei einem Denkmalsturz geht – um eine symbolische Bestrafung, um Vereindeutigung und Spurentilgung oder um Aufklärung? Und ist Entfernung die einzige Art, mit einem problematischen Denkmal zu verfahren? Auch eine Inschrift oder ein Gegendenkmal wären schließlich Möglichkeiten und würden mahnen, das Gedenken auch auf die Opfer zu lenken, statt eine Person oder ein Ereignis einseitig zu heroisieren.
Sich erinnern bedeutet, sich allen Aspekten der historischen Entwicklung zu stellen, den Aspekten, die uns aus heutiger Sicht empören oder beschämen, ebenso wie den Aspekten, auf die wir stolz sind oder die wir bewundern. Wenn wir die Widersprüchlichkeit aushalten, können wir daraus lernen. Wir können eine unkritische Heldenverehrung vermeiden, wir können darüber nachdenken, was dazu geführt hat (und führen kann), dass sich menschenverachtende Tendenzen Bahn brechen konnten, dass selbst gute Absichten in ihr Gegenteil umgeschlagen sind – und dass auch wir nicht vor Blindheiten, Selbstbefangenheiten und eigenen destruktiven Impulsen gefeit sind.
Moralisch verantwortlich zu urteilen ist immer aufs Neue eine Herausforderung, die unsere volle Umsicht erfordert. Ob es um den Umgang mit unserer Geschichte geht oder um den Umgang mit gegenwärtigen oder die Zukunft betreffenden Fragen.
Gabriele Isele
Folgen Sie uns unter